Sprich mit mir und lies mir vor

Sprache und Lesekultur als Basis von Bildung

„Wenn Sie wollen, dass Ihre Kinder intelligent sind, lesen Sie ihnen Märchen vor. Wenn Sie wollen, dass sie intelligenter werden, lesen Sie ihnen mehr Märchen vor.“ Dieses Zitat wird Albert Einstein zugeschrieben und zeigt ein humanes Verständnis von Bildungs- und Entwicklungsprozesses. Die heute übliche Fixierung auf digitale Endgeräte und Bildschirmmedien schon in der Kita verweist hingegen auf ein technizistisches und utilitaristisches Verständnis von Lernprozessen. Statt Schulen mit Tablets zu fluten sollte man den Papstbrief lesen und das Geld in Bücher und Literatur investieren.

Von Ralf Lankau

Einem oder mehreren Kindern vorzulesen bedeutet, Vorlesende und Zuhörerende sind präsent und im direkten Kontakt miteinander, aufmerksam und konzentriert. Kinder bemerken z.B kleine Fehler beim Vorlesen sofort. Die Stimme schafft einen gemeinsamen, akustischen Raum und erzählt eine Geschichte, die die Zuhörenden mit eigenen Vorstellungsbildern füllen. Der Mensch denkt ja in Bildern und übersetzt das Gehörte in eigene Vorstellungswelten. Ein einfacher Satz wie „Der Junge versteckte sich hinter dem Baum“ erzeugt Bilder sowohl des Jungen wie des Baums. Lässt man Kinder z.B. nach dem Vorlesen Bilder zu den Geschichten malen, zeigen die Ergebnisse nicht nur aufgrund der unterschiedlichen gestalterischen und motorischen Fertigkeiten eine Vielfalt an Ergebnissen, sondern auch in dem, was Kinder imaginieren, wie der Junge bei ihnen aussieht und welchen Baum sie sich vorstellen.

Bildungsbiografien beginnen durch den Erwerb der Sprache, ein sich entwickelndes Sprachverständnis und einen stetig wachsenden Wortschatz. Daher sprechen wir schon mit Säuglingen, die zwar noch nicht den Sinn der Worte verstehen, aber sich an die Sprachmelodie, die Charakteristika und den Klang einer Sprache gewöhnen. Der akustische Raum schafft, neben der Haptik und dem Blockkontakt, Geborgenheit und Sicherheit. Kinder lernen, Laute, Töne und Silben, mit der Zeit auch Worte zu unterscheiden, die sie nachsprechen. Das beginnt mit einfachen Silbenwiederholungen und differenziert sich durch die intensive Kommunikation miteinander. Das Silbenrepertoire aller Kinder dieser Welt ist bei Geburt (vermutlich) identisch. Silben, die ein Kind hört werden wiederholt, die, die es nicht hört, werden aus dem Repertoire entfernt. Mit Kindern zu sprechen ist daher die Voraussetzung, dass sie Sprechen lernen. In der „Monographie über die seelische Entwicklung des Kindes“ von 1907 beschreiben die Psychologen Clara und William Stern im ersten Kapitel die Entwicklung der Kindersprache von den ersten Lauten bis zum Sprechen in ganzen Sätzen und untersuchen die psychologischen und sprachtheoretischen Ursachen. Ein zweijähriges z.B. Kind sollte über ein (passives) Vokabular von etwa 200 bis 300 Wörtern verfügen. Der aktive Wortschatz besteht aus etwa 50 Worten und Zweiwortsätzen (Mama Arbeit). Die individuelle Entwicklung und das Zeitfenster der Sprachentwicklung kann zwar um ein paar Monate variieren (es gibt z.B. sogenannte „late talker“), aber die Sprache ist ein entscheidendes Indiz für die Entwicklung von Kindern.

Sprechen und kindliche Phantasie

Durch das Sprechen lernen Kinder nicht nur, sich zu verständigen, sondern auch den sinnlichen Eindrücken, die passenden Begriffe zuzuordnen. „Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war“ („Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensibus“) heißt es bei Aristoteles wie bei Immanuel Kant und dieses Wechselspiel aus Anschauung und Begriff ist die Grundlage aller erkenntnistheoretischen Prozesse und das Verstehen von Zusammenhängen. Mit etwa 36 Monaten kann ein Kind dann erste kurze Geschichten erzählen.Das Zitat von Einstein hat aber noch eine zweite Ebene. Das Vorlesen von Märchen fördert die Phantasie und Vorstellungskraft, weil in Märchen und Sagen Figuren und Situationen auftauchen, die Kinder nicht aus der Realwelt kennen können, weil es sie nur in der Vorstellung (oder medial generiert) gibt: sprechende Tiere, fliegende Teppiche, ein Geist, der aus der Flasche kommt und mit dem richtigen Spruch auch wieder darin verschwindet usw.

All das ist für Kinder kein Problem. Sie kombinieren, was sie aus der eigenen Anschauung und Erfahrung kennen und setzen es mit dem zusammen, was im Märchen erzählt wird. Das funktioniert, weil Kinder Phantasie haben und Phantasie dadurch, dass man ihnen Raum und Zeit für das freie Spiel lässt. Dann ist ein Bauklotz ein Auto oder eine Rakete oder etwas ganz anders, was gerade im Spiel gebraucht wird, gemäß dem Spruch: „Gutes Spielzeug ist zu 10% Zeug und zu 90% Spiel (der Phantasie)“. Die Entwicklung der eigenen Vorstellungswelten gelingt aber nur, wenn man ihnen „nur“ die Geschichte vorliest, statt fertige Bilder zu zeigen. Es ist ein Lernprozess, der sich an Kinderbüchern für die verschiedenen Entwicklungsstufen ablesen lässt. Man beginnt mit dem gemeinsamen Betrachten von Bilder- und Wimmelbüchern, bei denen den Abbildungen Begriffe zugeordnet werden und steigert den Textanteil immer weiter, bis der Text bei Jugendbüchern allenfalls noch von einem Frontispiz oder wenigen Illustrationen begleitet sind und schließlich reine Textbücher die Transformation von Text in Bilder den Lesenden überantworten. Individuelle Vorstellungswelten entstehen im Kopf.

Der Papstbrief über die Bedeutung der Literatur

Im August 2024 hat Papst Franziskus aus einer ganz anderen Perspektive dazu einen interessanten Beitrag veröffentlicht, der die Bedeutung des Lesens und der Literatur für Bildungsprozesse, Vorstellungskraft und Empathiefähigkeit thematisiert. In seinem Brief „Über die Bedeutung der Literatur in der Bildung“ schreibt er (die Absätze des Briefs sind durchnummeriert):

„Im Gegensatz zu den audiovisuellen Medien, bei denen das Produkt vollständiger ist und der Spielraum und die Zeit, die Erzählung zu „bereichern“ oder zu interpretieren, in der Regel geringer sind, ist der Leser beim Lesen eines Buches viel aktiver. Er schreibt das Werk in gewisser Weise um, erweitert es mit seiner Vorstellungskraft, erschafft eine Welt, nutzt seine Fähigkeiten, sein Gedächtnis, seine Träume, seine eigene Geschichte voller Dramatik und Symbolik, und so entsteht ein Werk, das sich von dem unterscheidet, das der Autor zu schreiben beabsichtigte. (Franziskus, 2024, 3)

Die Literatur öffne gerade angehenden Priestern Erfahrungswelten und Sichtweisen, die sie durch ihren Weg des Glaubens, durch Ausbildung und klerikalem Studium selbst nicht erleben, aber kennen sollten, um die Menschen mit ihren Ängsten, Bedürfnissen und Sorgen begleiten zu können. Neben pragmatischen Aspekten wie Steigerung der Konzentrationsfähigkeit, Erweiterung des Wortschatzes und Förderung von Kreativität und Phantasie (16) erweitere die Literatur durch die Komprimierung von Geschehnissen auf wenige Seiten Erkenntnismöglichkeiten, die man im realen Leben nicht wahrnehmen, weil es zum Teil jahrelange Prozesse seien. Lesen sei vor allem Aktion statt Konsum vorgefertigter (Bild)Welten:

„Beim Lesen einer Geschichte stellt sich dank der Sicht des Autors jeder auf seine Weise das Weinen eines verlassenen Mädchens vor, die alte Frau, die ihren schlafenden Enkel zudeckt, den Einsatz eines kleinen Geschäftsmannes, der versucht, trotz aller Schwierigkeiten über die Runden zu kommen, die Demütigung eines Menschen, der sich von allen kritisiert fühlt, den Jungen, der als einzigen Ausweg aus dem Schmerz eines unglücklichen und rauen Lebens seine Träume besitzt. (…), wir sehen die Wirklichkeit mit ihren Augen und werden schließlich zu Weggefährten. So tauchen wir ein in die konkrete, innere Existenz des Obstverkäufers, der Prostituierten, des Kindes, das ohne die Eltern aufwächst, der Frau des Maurers, der alten Frau, die immer noch glaubt, ihren Prinzen zu finden. Und wir können dies mit Einfühlungsvermögen und manchmal mit Duldsamkeit und Verständnis tun.“ (36)

Lesen und Bildschirmzeiten

Sich auf das Lesen konzentrieren, lesend Eigenes imaginieren und empathisch miterleben und -leiden zu können sind Kulturtechniken, die aufgrund zunehmender Bildschirmnutzungszeiten seit Jahrzehnten weniger geübt, weniger praktiziert und mittelfristig nicht mehr beherrscht werden. Lesen gehört zu den Kulturtechniken, die man lernen und regelmäßig üben muss, um sie zu beherrschen, wie das Spielen eines Instruments. Wer nicht regelmäßig übt, kann es zwar „im Prinzip“ noch, aber es wird mühsamer, selbst nicht mehr praktiziert und nicht mehr vermittelt. Eine selbst rauschgiftsüchtige Elterngeneration entsorgt die eigenen Kinder an Display. Touchscreen und Spielkonsole und verhindert sowohl die sprachliche wie die kognitive Entwicklung des Nachwuchses.

„Vier von zehn Kindern wird nicht oder nur selten vorgelesen, viele Eltern sprechen kaum noch mit ihren Kindern, weil sie selbst mit digitalen Geräten beschäftigt sind, den gesamten Tag der Fernseher läuft oder weil sie Erziehung und Bildung an Kindergärten oder Schulen delegiert haben.“ (Schmoll, 2024)

Die Sprachentwicklung von Kindern hat Zeitfenster, vor dem Alter, in dem Kinder in die Kita kommen. Bis zum 4. Geburtstag ist die Sprachentwicklung weitestgehend abgeschlossen. Werden diese Zeiten nicht genutzt, das Sprechen nicht beizeiten geübt, wird das spätere Lernen zwar nicht generell verhindert, aber deutlich erschwert. Das „kinderleichte Lernen“ ist nun mal an die Zeit der frühen Kindheit gebunden. Sitzen Kinder stattdessen vor einem Bildschirm, bleiben sie passiv und stumm.

Nach dem Untersuchungsbericht des Bildungsausschusses des britischen ‚House of Commons‘ (HoC, 2024) beginnt die Bildschirmnutzungszeit von Kleinstkindern in Großbritannien bereits mit 6 Monaten. 20% der 3-4-Jährigen haben bereits ein Mobiltelefon, 25% der Achtjährigen ein Smartphone, bei den 12-Jährigen sind es nahezu 100%. Kinder und Jugendliche verbringen immer mehr Zeit vor Bildschirmen. Zwischen 2009 und 2018 stieg die Zeit vor Displays von 9 auf 15 Stunden pro Woche. Die Bildschirmzeit für 11- bis 14-Jährige beträgt laut dieser Untersuchung mittlerweile bis zu 9 Stunden – täglich.

Als Folge dieser Mediennutzung sind Kinder und Jugendliche laut HoC-Studie weniger konzentrationsfähig und leicht ablenkbar, entwickeln Lernstörungen und ein erhöhtes Risiko für Depressionen und Angstzustände. Dazu kommen Schlafstörungen, Bewegungsmangel und Übergewicht sowie die Gefahr, zu früh mit nicht kindgerechten Inhalten konfrontiert zu werden. Letzteres kann zwar auch mit Literatur passieren, aber ein Text adressiert das Vorstellungsvermögen der Lesenden und korrespondiert mit deren Wortschatz und Vorstellungswelten, was in der Regel zu weniger drastischen Phantasien führt als aufgezwungene Hardcore-Bilder audiovisueller, heute oft KI-generierter Medien. Über Cybermobbing und Seiten mit Gewaltdarstellungen oder Pornografie berichten schon Grundschulkinder und eine Schulleiterin wie Silke Müller, die eindringlich und aus der Schulpraxis heraus warnt, dass „wir unsere Kinder verlieren“ (Müller, 2023).

Den Fokus korrigieren

Heute erzählt man Eltern und Lehrkräften zwar, es käme darauf an, möglichst früh an Bildschirmen zu arbeiten – verkennt aber (wissentlich), dass es für das Erlernen des Umgangs mit digitalen Endgeräten und Techniken keine Altersbeschränkungen gibt. Im Gegenteil: wer sich Neugier und Experimentierlust bewahrt hat, kann in jedem Alter den Umgang mit Geräten und Diensten lernen, muss es sogar, weil so manches Update die erarbeiteten Routinen durchkreuzt. Anders sieht es mit dem Spracherwerb als Grundlage der intellektuellen und kognitiven Entwicklung aus. Wer als Kleinkind sprachlich nicht gefördert wird, tut sich ein Leben lang schwer mit Schule und Beruf. Dazu kommt: Wer sich nicht artikulieren kann, weil er keinen Wortschatz aufgebaut hat, ist zum Schweigen und Zuhören verdammt. Wer nicht selbst lesen kann, muss glauben, was andere ihm oder ihr vorlesen oder vorsprechen. Wir sind, nach Jahrhunderten der schulischen Alphabetisierung auch mit dem Ziel der Emanzipation und Mündigkeit zurück in eine orale (sprachbasierte) Gesellschaft.

Durch immer mehr und immer früher genutzte Bildschirmmedien mit Spracherkennungssystemen wie Siri, Cortana und Co. oder ChatBots und sprechenden Avataren regrediert das Lesen zu einem funktionalen Analphabetismus, bei dem es genügt, Icons und Symbole anzuklicken. Da diese sprachgenerierenden IT-Systeme von den Nutzern nicht kontrolliert werden können entstehen quasi nebenbei autokratische Strukturen­. Es ist eine Form von digitalem Feudalismus, bei dem die Position der Allmächtigen nicht mehr von Adel und Klerus beansprucht wird wie in monarchischen Gesellschaften, sondern von Tech-Monopolisten und ihren Vertretern.

Das Gegenmittel ist, wie schon im 18. Jahrhundert, die Aufklärung. „Sapere aude. Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu benutzen.“ heißt es bei Immanuel Kant. Diesen Verstand muss man entwickeln. Dazu braucht man die Sprache und Begriffe, entwickelt (sprach)logische Strukturen und ethische Wertesysteme. Die Basis dafür sind Geschichten, Märchen, Sagen. Vorgelesen oder selbst gelesen. Drum ist es so wichtig, mit Kindern zu sprechen und ihnen vorzulesen, ihnen das Lesen beizubringen und durch das eigene Vorbild zum Lesen anzuhalten und zu fördern. Aus dem selbst Lesen kann dann ein selbst Denken im Sinn Kants werden.

„Der Leser ist also nicht der Empfänger einer erbaulichen Botschaft, sondern eine Person, die aktiv aufgefordert wird, sich auf unsicheres Terrain zu begeben, wo die Grenzen zwischen Heil und Verderben nicht a priori festgelegt und getrennt sind. (…) Der Leser gleicht also einem Spieler auf dem Spielfeld: Er spielt das Spiel, aber gleichzeitig wird das Spiel durch ihn gespielt, in dem Sinne, dass er völlig in das, was er tut, einbezogen ist.“ (Augustinus, 20242)

Quellen und Literatur

HoC (2024) Untersuchungsbericht des Bildungsausschusses des britischen „House of Commons“ über „Bildschirmzeit: Auswirkungen auf Bildung und Wohlbefinden“, Vierter Bericht der Sitzungsperiode 2023-24, 23.05.2024 siehe:

House of Commons Education Committee (2024) Screen time: impacts on education and wellbeing. Fourth Report of Session 2023–24. Report, together with formal minutes relating to the report. Ordered by the House of Commons to be printed 23 May 2024, https://nen.press/tag/screen-time-impacts-on-education-and-wellbeing-report/ (24.8.2024)

Müller, Silke (2023) Wir verlieren unsere Kinder. Gewalt, Missbrauch, Rassismus: Der verstörende Alltag im Klassen-Chat, München

Papst Franziskus (2024) Brief des Heiligen Vaters Franziskus über die Bedeutung der Literatur in der Bildung;  (14. August 2024)

Schmoll, Heike (2024) Sprachdefizite sind Bildungsbarrieren, in FAZ vom 14.8.2024, S. 1,  (15.8.2024)

Stern, Clara und Wilhelm (1907) Monographie über die seelische Entwicklung des Kindes, Verlag Johann Ambrosius Barth (15.8.2024)