
oder: Wie man Kinder und Jugendliche in die Sucht führt
Die Konsumgüterindustrie hat ein großes Interesse, Kinder und Jugendliche möglichst früh an ihre Produkte heranzuführen und sie zu regelmäßig zahlenden Kunden zu machen. Vormals waren es Alcopops (alkoholische Getränke für Jugendliche), derzeit sind es sozial nur genannte Webdienste. Das gemeinsame Ziel: Gewöhnung, Produktbindung und Sucht. Klare und altersgemäße Regeln, Ge- und Verbote (bei Bedarf) sind auch bei Social Media notwendige Maßnahmen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen.
Zu Beginn des Jahrtausends lancierte die Getränkeindustrie eine neue Produktgruppe: kleine, bunte Getränkeflaschen mit coolen Produktnamen wie Smirnoff Ice, Bacardi Breeze oder Puschkin Vibe.
- Der Anlass: Sinkende Umsätze bei Spirituosen.
- Das Ziel: Erschließen neuer Absatzmärkte, junge Zielgruppe.
- Das Produkt: Alcopops.
Poppige Aufmachung, aufwendige Kampagnen (alleine im Jahr 2004 wurden 41 Mio. Euro in Werbung investiert) und trendige Websites sollten gezielt junge Menschen an das Trinken von Alkohol heranführen und gewöhnen. Diese Alkoholmischgetränke schmecken (!) wie Limonade und lassen sich so leicht trinken. Der alkoholtypische Bittergeschmack wird durch Zusätze (viel Zucker, Kohlensäure, Aroma- und Farbstoffe) überdeckt. Der Alkoholgehalt entspricht pro Fläschchen (275 bis 350 Milliliter) allerdings einem doppelten Schnaps. Das Mixgetränk selbst kommt auf 5 bis 5,6 Volumenprozent Alkohol. Durch die Kombination aus hohem Zuckergehalt und Kohlensäure wird Alkohol besonders schnell ins Blut aufgenommen und macht schnell betrunken. (Dittrich, 2003).
Die Produktkampagne war erfolgreich. 48 Prozent der 14-17 jährigen konsumierten 2003 regelmäßig Alkopops. Die Folgen waren absehbar. Der deutsche Drogen- und Suchtbericht 2003 gibt an, dass jeder Dritte 14- bis 15-Jährige schon einmal einen Vollrausch hatte, nicht (nur) von Alcopops, aber die Einstiegsdroge gewöhnt an den Konsum alkoholischer Getränke. Mehrere europäische Staaten reagierten mit massiven Steuererhöhungen, der Absatz brach wie beabsichtigt ein. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen forderte zusätzlich eine Werbeverbot wie für Zigaretten und die Abgabe erst ab 18. Beides ist mittlerweile realisiert. Das Beispiel verdeutlicht:
Der Staat darf und muss regulierend in Märkte eingreifen, wenn kommerzielle Anbieter gezielt Kinder und Jugendliche adressieren, um diese zu Konsum und (selbst)schädigendem Verhalten zu verleiten, seien es nun Konsumgüter oder Mediendienste.

Suchtfaktor Social Media Apps
Die Computerindustrie hat von Anfang an neben den Anwendungsprogrammen auch den Spielemarkt adressiert. Über Computerspiele kann man auch nicht digitalaffine Menschen für Rechner und ggf. das Programmieren interessieren. Nicht zuletzt ist es der „homo ludens“, der spielende Mensch, der durch Spiel und Experiment, durch Phantasie und Systematik, zu neuen Lösungen kommt. Problematisch wird es, wenn Spieltrieb und Technikbegeisterung von kommerziellen Anbietern missbraucht werden, um eigene Profite zu maximieren.
Genau das ist im Silicon Valley passiert. Aus ursprünglich liberalen Nerds mit ihren Garagenfirmen sind Tech-Milliardäre mit Machtansprüchen geworden. Der Investor Peter Thiel glaubt seit 2009 nicht mehr, „dass Freiheit und Demokratie miteinander vereinbar sind “ und würde am liebsten die Demokratie abschaffen. (DLF, 2025) Elon Musk hält Empathie, das Einfühlungsvermögen und Mitgefühl für andere Menschen, für das größte Problem der Europäer, weil das die Geschäfte stört. Anne Applebaum spricht von der „Die Achse der Autokraten“ (2024). Ihr Kollege Douglas Rushkoff beschreibt im Buch „Survival of the Richest“, wie aus der Aufbruchsstimmung der 1990er ein Programm aus Angst und Größenwahn werden konnte.
33 US-Bundesstaaten klagen seit 2023 gegen Facebook/Meta, weil die Geschäftsmodelle der Plattformen so konzipiert seien, dass Kinder und Jugendliche möglichst viel Zeit am Bildschirm verbringen. Dazu werden alle nur erdenklichen Psycho- und Designtricks eingesetzt. Mit den mobilen Endgeräten (Smartphones ab 2007, Tablets ab 2010, manipulative Designelemente wie Dark Patterns usw.) werden immer mehr Kinder immer früher erreicht. Das Einstiegsalter sinkt, die Bildschirmnutzungszeiten steigen. Gewöhnung und Abhängigkeit von Geräten und Diensten mit dem Ziel, möglichst viel gezielte Werbung (digitale Avatare) an die Kinder zu bringen.

Regeln, Ge- und Verbote für die Gemeinschaft
Der Chefentwickler von Microsoft und Friedenspreisträger 2014 des Deutschen Buchhandels, Jaron Lanier, hat schon 2018 dazu ein kleines Büchlein publiziert. Der Titel: „Zehn Gründe, warum Du Deine Social Media Accounts sofort löschen musst“. Er formuliert klar: „Du bist nicht der Kunde der Internetkonzerne. Du bist ihr Produkt.“ (Lanier 2021) Australien hat als erstes Land 2024 verbindliche Altersbeschränkungen eingeführt (ab 16), in der EU wird diskutiert. Der französische Präsident Macron hat angekündigt, Alterszugangsbeschränkungen für das Web national einzuführen, falls sich die EU nicht auf gemeinsame Regeln einigen kann.
Regeln, Ge- und Verbote, bei Regelverstößen Sanktionen sind für Bildungseinrichtungen neben dem Bildungs- der Erziehungsauftrag explizit benannt. Der Kinder- und Jugendschutz ist in Deutschland sogar eine staatliche Aufgabe mit Verfassungsrang (Artikel 74 Absatz 1 Nr. 7 Grundgesetz). Das gilt für kinder- und jugendgefährdende Angebote wie Alkohol oder Drogen, Nikotin, Bücher, Filme oder süchtig machende Onlinedienste. Für Internetmedien gilt Artikel 74 Absatz 1 Nr. 7 Grundgesetz. Daher ist es zu begrüßen und mit eigenen Aktionen zu unterstützen, dass die amtierende Bildungsministerin, Karin Prien, sowohl die Debatte über mögliche Smartphoneverbote in Schulen führt wie, zusammen mit Ihrer Kollegin, der Justizministerin Stefanie Hubig, die Forderung nach Altersbeschränkungen für Social Media-Dienste (ab 16 Jahren) unterstützt. Auch der Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Hendrik Streeck, arbeitet an Konzepten gegen das Suchtpotential digitaler Online-Medien. Alle drei sehen Handlungsbedarf.
- Auf der einen Seite sind verbindliche Regeln und Verbote für private digitale Endgeräte in Schulen zu erarbeiten und das gesetzliche Verbot an Anbieter zu formulieren, Social Media für Jugendliche unter 16 unzugänglich zu machen. Dazu gehört das Verbot persuasiver (verhaltensändernder) Techniken und Methoden des addictive (süchtig machendes) Design bei Software und Spielen für Minderjährige. Dazu gehört das Kappen des Rückkanals für die Daten Minderjähriger und das Verbot der Profilierung (digitaler Zwilling).
- Auf der anderen Seite stehen konkrete Regeln und Gebote für den konstruktiven statt konsumistischen Einsatz nichtkommerzieller Software (Free and Open Source Software, FOSS) in Schulen in Rücksprache mit Akteuren wie dem Chaos Computer Club (CCC), Digitalcourage und anderen zivilgesellschaftlichen Verbänden und Personen. Dazu starten wir zum neuen Schuljahr und Semester eine Kampagne und laden Schülerinnen und Schüler, Studierende, aber auch Vertreter von Kinder- und Jugendeinrichtungen ein, sich mit Text- und Bildbeiträgen zum Thema „Smartphone und Social Media für Kinder und Jugendliche: Sinnvolle Regeln, Ge- und Verbote“ zu beteiligen. Mögliche Themen sind Erziehung zur Medienmündigkeit (für Eltern und Kinder), Folgen dysfunktionaler Bildschirmmediennutzung, Gruppenzwang und alternativen Kommunikations- und Arbeitstools u.v.m.
Das Ziel ist die Demokratisierung und Humanisierung des Digitalen statt der Digitalisierung von Demokratie und Humanität, so Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier 2019 in Dortmund. Wir müssen daher als erstes (und nicht nur in Schulen) die einseitige Fixierung auf Digitaltechnik aufbrechen. „Digital bei Bedarf“ muss die Maxime demokratischer Gesellschaften, der Bildungseinrichtungen und der Pädagogik heißen statt dem „digital only“ der Digitalwirtschaft und Datenökonomie. Für Schulen stehen der sich entwickelnde und lernende Mensch und das reale (Er)Leben im Mittelpunkt, nicht Technik. Wir brauchen dazu eine Rückbesinnung auf die Bedeutung der Allgemeinbildung statt Verkürzung auf MINT-Fächer. Dazu gehört die ästhetische Bildung (Kunst, Musik, Literatur) als Konterpart der mathematisch-technischen Fächer, Schulgärten, und Schulorchester, Klassenfahrten und anderen Formen des Erlebens von Gemeinschaft.
Mitmachen

Dazu entwickeln, begleiten und unterstützen wir im neuen Schuljahr bzw. im Wintersemster crossmediale Kampagnen unter dem Arbeitstitel: “Vernetzt. Vernebelt. Verführt: Social Media Apps – Alcopops der IT-Wirtschaft“, um Digitaltechnik wieder zum Werkzeug zu machen, bei dem wir die Hoheit über die Systeme, Daten und Einsatzgebiete haben. Digitale Souveränität ist das Ziel und bedeutet, dass wir Digitaltechnik nur da nutzen, wo sie für uns sinnvoll ist – wohlwissend, dass wir als Menschen weder digital leben noch lernen. Digitalisierung darf nur als Werkzeug zur Erleichterung der Arbeit des Menschen eingesetzt werden, nicht als Konzept und Infrastruktur, um andere Menschen zu beherrschen, wie es die Konzepte der Heritage Foundation mit ihrem „Projekt 2025“ fantasieren.
Dazu laden wir ein, sich mit eigenen Ideen, Entwürfe und Projekte bis zum 30.11.2025 an die Adresse [digitale-alcopops@designzentrum.de] zu mailen oder eigene Projekte zu initiieren. Wir sammeln, dokumentieren und publizieren Gelungenes auf der Projektwebsite.
AUFRUF zur Mitmach-Kampagne (Arbeitstitel):
Vernetzt. Vernebelt. Verführt:
Social Media Apps – Alcopops der IT-Wirtschaft
oder: Demokratisierung und Humanisierung des Digitalen statt Digitalisierung von Demokratie und Humanität
Das Motto:
„Ohne Menschen sind Computer Raumwärmer, die Muster erzeugen.“
(Jaron Lanier)
Kontakt/ Ansprechpartner: Prof. Dr. phil. Ralf Lankau
- Websites: Die pädagogische Wende / futur-iii.de
- Redaktion Pädagogische Wende <die-paedagogische-wende@futur-iii.de>
- eMail für das Alcopop-Projekt: digitale-alcopops@designzentrum.de
Literatur und Quellen
Alkopops (2014) https://www.slideserve.com/seoras/alkopops
Applebaum, Anne (2024) Die Achse der Autokraten. Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten (Penguin, 2024).
BZgA (2003) Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Bekanntheit, Kauf und Konsum von Alkopops bei Jugendlichen 2003. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung bei Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren
BR (2025) Lehrerpräsident: Verbote helfen bei Social Media nicht weiter; siehe dazu:
Beschluss der Zeugniskonferenz: Präsident des Lehrerverbandes Stefan Düll nicht versetzungsfähig, h
BR24 (2025) Social-Media-Konsum: Debatte um Verbot für Kinder vom 20.6.2025; Dittrich, Kathi (2003): Alcopops: Die süße Versuchung. UGB-Forum 6/03, S. 308-309 https://www.ugb.de/kinder-gesund-ernaehren/alcopops-suesse-versuchung/
DLF (2025) Vordenker und Sponsor des US-RechtsrucksPeter Thiel – „politisch entfesselter Neoreaktionär“; 12.06.2025;
Hermes, Sandra (2025) Grenzen der Selbstregulation Handynutzung: Warum Kinder nicht von allein aufhören können. Interview mit Daniel Wolff, in: Deutsches Schulportal vom 17. Juni 2025;
Matthes, Sebastian (2021) Sie haben gelernt, unser Gehirn zu hacken, Interview mit dem Historiker Yuval Noah Harari; in: Handelsblatt vom 30. Dezember 2021 bis 2. Januar 2022, Nr. 253, S. 16-18 (12.6.2023)
Lanier, Jaron (2021) Wem gehört die Zukunft?
Lanier, Jaron (2018)Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst
Prien, Karin (18.6.2025) DLF-Interview: Smartphonebveverbote (DLF 18.6.25)
Forderung, Social Media-Dienste erst für 16 Jährige zugänglich zu mache n (DLF 18.6.25).
Rushkoff, Douglas (2024) Survival of the Richest. Warum wir vor den Tech-Milliardären noch nicht einmal auf dem Mars sicher sind
Steinmeier, Frank (2019) Rede zur Eröffnung der Podiumsdiskussion „Zukunftsvertrauen in der digitalen Moderne“ beim 37. Deutschen Evangelischen Kirchentag am 20. Juni 2019 in Dortmund (27.2.2020)