„Hausfrauen, Polizisten – jeder ist als Lehrer geeignet“ ist ein Beitrag des amerikanischen Computerwissenschaftlers David Gelernter in der FAZ vom 8. Februar 2012 betitelt, seinem Plädoyer für eine Cyber-Akademie. Schulen und Universitäten würden verschwinden und durch netzbasierte Bildungssysteme und Cyberkurse ersetzt. „Vorlesungen sind ein Relikt aus dem Mittelalter, und die netzbasierte Bildung wird sie hinwegschwemmen.“ Nach den Universitäten als Vorreiter würden auch Sekundar- und schließlich Grundschulen diesen Weg gehen. Zwar entstünden hohe Kosten, aber die Vorzüge des sich gerade etablierenden Internetbildungssystems überwiegen: Eltern und Schüler könnten aus einem weltweiten Angebot von Kursen wählen.
Auch das Bild des Lehrers ändere sich – metaphorisch und praktisch: Kinder und Lehrer kommunizieren per Internetvideo. „Das Kind schickt dem Lehrer seine Arbeiten, der Lehrer schickt sie ihm mit seinen Korrekturen zurück, und die Schleife beginnt von vorn. Wenn es erforderlich ist, das Kind und Lehrer miteinander sprechen, stellt man über Internet eine Videoverbindung her.“ Diese „Lernschleifen“ seien zeit- und kostenintensiv, aber „zum Glück haben viele Erwachsene den Grundschulstoff erfolgreich gemeistert und können sich darin auch als Lehrer betätigen.“ Die Kritik der Lehrerverbände und Gewerkschaften sei selbstgerecht, denn schließlich könnten auch Ingenieure, Geschäftsleute im Ruhestand, Hausfrauen und Polizisten sehr gut lesen, schreiben und rechnen. Und weiter: „Jeder, der etwas zu lehren weiß, kann einen Internetkurs zusammenstellen.“
Für die höhere Bildung kämen vor allem interaktive Videovorlesungen zum Einsatz. Die Studierenden können jederzeit unterbrechen und Fragen stellen, die von Assistenten beantwortet werden. (Man könne auch dem Professor eine Frage stellen, aber das dauere länger…; als Professor wird Gelernter es wissen). Die notwendige Software gäbe es bereits. Ergänzend bedürfe es noch einer Handvoll „Apps“, mit denen man die Gestaltung der Kurse standardisieren könne. „Dann kann jeder einen Internetkurs produzieren und ihn weltweit auf dem freien Markt des Cyberspace anbieten.“ Probleme gibt es auch, etwa das ständig wachsende Angebot. Aber dafür schlägt Gelernter einen Führer als „Internetmentor“, der sich nicht nur in der sich schnell ändernden Welt der Internetkurse auskenne, sondern auch eine Vorstellung von Bildung und Erziehung habe. „Mentoren schlagen vor, welche Kurse man wählen soll, und halten ein Auge auf die Arbeit der Schüler und Studenten.“ Zwar könnten diese Mentoren Pfarrer, Pastoren und Rabbis ersetzen, aber „sie werden die Kinder mit der majestätischen Tradition der westlichen Kunst, Wissenschaft und Gelehrsamkeit, des moralischen, spirituellen und religiösen Denkens verbinden“ und würden „in gewissem Maße“ moralische Autorität ersetzen.
Daneben bräuchte man wohl noch „objektive Instanzen“, die bescheinigten, dass Ausbildungen zufriedenstellend und ausreichend seien. Diese Aufgabe würden anfangs noch Universitäten übernehmen, aber auch das würde individualisiert: „Am Ende könnten dann auch namhafte Persönlichkeiten und Institutionen auf der Grundlage schriftlicher und mündlicher Prüfungen eigene Abschlusszertifikate ausstellen.“ In letzter Konsequenz vergeben gar einzelne Personen die Abschlüsse: „Mit der Zeit wird dann ein unter der Anleitung eines prominenten Denkers absolviertes Cyber-Studium an die Stelle eines Harvard- oder Oxford-Abschlusses als Goldmedaille der höheren Bildung treten.“ Heute lasse man zu, dass Kinder zu „Sklaven des Internet“ werden, „Internetsüchtige, die verloren oder hoffnungslos gelangweilt sind ohne die Geräte“. Aus dieser Fron befreit das Internetbildungssystem: „Der durchschnittliche Internetsklave wird die netzbasierte Bildung als natürlich und erstrebenswert empfinden.“ So jedenfalls beschreibt David Gelernter seine Uto- oder Dystopie von Schule und Bildung. Jürgen Kaube kommentiert in der FAZ denn auch nüchtern: „So denkt ein Technologe.“
Was Gelernter hier propagiert, ist die Karikatur von (Hoch)Schule oder Lernprozessen. Selbstredend ist Lernen ein individueller Prozess und kann technisch wie medial unterstützt werden, sei es mit Texten, Bildern, Büchern oder audiovisuellen Exponaten. So steht es bereits bei Comenius (siehe Hübner; Lit. Im Anhang). Lernen ist aber immer und primär ein sozialer Prozess, ein Sozialisationsprozess, der nicht medial und/oder technisch vermittelt werden kann. Daher verweist auch Kaube auf den Soziologen Robert Dreeben, der in seinem Buch „What we learn in school“ ausführt, dass nicht das Sachwissen im Mittelpunkt stehe, sondern Rollenverhalten, Personenbeobachtung etc. Das weiß selbstverständlich auch Gelernter, wenn er formuliert: „Am besten lernt man, wenn Lehrer und Schüler einander direkt gegenüber stehen.“ um allerdings den persönlichen Kontakt auf Einzelfälle, bestimmte Fächer wie Medizin oder ganz junge Kinder zu reduzieren – und stattdessen die Videoschaltung zwischen Schüler und Lehrer per Internet schon in der Grundschule zu prognostizieren. Lernen ist selbstredend auch Interaktion, aber primär nicht zwischen Mensch und Maschine oder Mensch und Medium)(beides keine Interaktionen im strengen Sinn), sondern zwischen Menschen. Gelernter unterschlägt mit dem Hinweis auf die vorhandene Technik alle sozialen, psychischen und physischen Aspekte des Lernens. Kinder brauchen Lehrer, andere Kinder, Freiräume und z.B. Vertrauen. Je jünger Menschen sind, desto notwendiger. Wer Lernprozesse technisiert, denkt technisch, nicht human und macht sich zum Propagandisten der Enthumanisierung.
Der Beitrag von Gelernter wird hier so ausführlich paraphrasiert, weil er prototypisch veranschaulicht, wohin die Hybris der Technikgläubigkeit (mit Betonung auf Gläubigkeit) führt. Im ersten Schritt (Cyber-Akademie) ist es die übliche „Technik statt Lehrer“ zur angeblichen Objektivierung des Unterrichts. Das intendierte schon Comenius. Alle Schüler lesen die gleichen Bücher, betrachten die gleichen Bilder. Fragen und Antworten sind normiert. Die Einhaltung der Normen kann jeder halbwegs anständige und zuverlässige Hilfslehrer kontrollieren. Dafür braucht man weder ausgebildete noch (laut Kritikern immer zu gut) bezahlte Lehrer. Was schon bei Comenius anklingt sind die „Lehrsklaven“ in Analogie zu den Lernsklaven, wie sie selbstredend weder bei Comenius noch bei Gelernter heißen. Aber auch das ist noch nicht zu Ende gedacht: Letztes Jahr hatte Robert Murdoch einen Beitrag in der FAZ publiziert, der Lernen am Rechner, Kontrolle und Zusammenstellung der Curricula für jede(n) Einzelne(n) dem Computer überantworten sollte: „self-assesment“ schon in der Grundschule (Beitrag und Kommentar s.u.). Das ist zwar für Eltern, Lehrer, Pädagogen indiskutabel, aber wie schreibt Gelernter: „Ein Gesetz der menschlichen Gesellschaft lautet: Jede neue Großtechnologie, die eingesetzt werden kann, wird auch eingesetzt.“
Gelernter geht noch einen entscheidenden Schritt weiter. Gab es bislang noch einen, wenn auch nur ungefähren, Konsens über curriculare Inhalte zu Jahrgangsstufen, Schulfächern oder Studiengängen, werden die Lehrinhalte bei Gelernter vollständig dem Markt bzw. dem Mentor überantwortet, der für seine Schützlinge die „passenden“ Kurse auswählt. Damit landen wir nicht mehr nur beim Patriarchat, sondern im Absolutismus, wenn die Entscheidungen einer „prominenten Person“ über die Inhalte einer Ausbildung oder Studiums und den Wert eines Abschlusses entscheiden.
Es gibt das Sprichwort: „Um ein Kind zu erziehen, braucht man ein ganzes Dorf.“ Wir sollten ihn ausweiten und formulieren: „Es braucht eine ganze (Hoch)Schule mit allen Beteiligten, um zu lehren und zu lernen und junge Menschen sich entwickeln zu lassen.“ Dabei können, ab Sekundarstufe II und richtig eingesetzt, auch digitale Medien als Mittel, Medium und Werkzeug hilfreich sein – solange es Mittel und Werkzeuge bleiben wie ein Tafellanschrieb, eine Kopie, eine Fotografie, ein Film. Bewahren sollten sich aber Lehrende wie Lernende vor der Fiktion, digitale Geräte und Dienste seine mehr als Mittel zum Zweck. Denn über eines solte man sich im Klaren sein: Digitaltechnik ist das zur Zeit potenteste Mittel zur Verzweckung des Menschen. Gelernter selbst spricht ja von Internetsklaven. Nur sind diese nicht durch noch mehr, sondern durch weniger Technikeinsatz aus ihrer Sklavenposition zu befreien. Statt immer weiter in Technik zu investieren, brauchen wir mehr lebendige Tutoren, Mentoren, Pädagogen, Lehrer – in jeder (Hoch)Schule.
Quellen
David Gelernter: Hausfrauen und Polizisten – Jeder ist als Lehrer geeignet, in: FAZ vom 8. Februar 2012, Forschung und Lehre, S. N5 (Artikel kostenpflichtig im FAZ-Archiv erhältlich)
Zu Comenius und heutigen Parallelen siehe: Edwin Hübner, Anthroplogische Menschereziehung. Grundlagen und Gesichtspunkte, Frankfurt: Lang, 2005, besonders Kap. 1.4 und 1.8.7 (Exkurse)
Rupert Murdoch: Bildung ist das letzte Reservat, in: FAZ vom 8. Juni 2011, S. N5
Kommentar Lankau zu Murdoch: Bildung ist das letzte Reservat