Wenn Avatare mit Prosumenten chatten: Der Rezipient im Spannungsfeld des digitalen Wandels

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15. Buckower Mediengespräche 2011

„07. Januar 2010 Als ich im Herbst 1989 an das „Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences“ in Palo Alto kam, warf ich einen neugierigen Blick in mein neues kajütenartiges Büro. Verblüffenderweise enthielt der Raum nicht die geringste technische Ausstattung, kein Telefon, kein Email oder sonstige Kommunikationsmittel. Nichts würde hier meine Gedankengänge unterbrechen können. Die technischen Hilfsmittel standen außerhalb der Büros zur Verfügung, wann immer man wünschte, durften aber nicht in den Arbeitszimmern ihr Eigenleben entfalten. Diese geschützte Zone war bewusst darauf angelegt, den Gelehrten die nötige Zeit zum Nachdenken, und zwar zu tiefem Nachdenken, zu verschaffen.“Gerd Gigerenzer: Die Auslagerung des Geistes, in: Schirrmacher, Internet, 2010, S.3)

„Schon lange versuche ich nicht mehr, mir Fakten zu merken oder auch nur, wo ich sie herhabe. Ich habe gelernt, wie ich im Internet an sie herankomme. Mein Wissen ist damit prekärer geworden. Für jedes allgemein akzeptierte Partikel Wissen, das ich finde, ist sofort jemand zur Hand, der es in Abrede stellt. Jede Tatsache hat eine Gegentatsache. Die extreme Verlinkung des Internet macht die Gegentatsachen genauso sichtbar wie die Tatsachen. Manche Antitatsachen sind unsinnig, manche grenzwertig und manche stichhaltig. Kein Experte kann sie für uns auseinandersortieren, weil es für jeden Experten einen gleichwertigen Gegenexperten gibt. Somit unterliegt alles, was ich lerne, der Erosion durch diese allgegenwärtigen Antifaktoren. Ich bin mir zunehmend über gar nichts mehr sicher.“ (Kevin Kelly: Ich bin mir über gar nichts mehr sicher, in: Schirrmacher, Internet, 2010, S.3)

I    Wenn Avatare mit Prosumenten chatten…

Die beiden Eingangszitate von Gerd Gigerenzer und Kevin Kelly beschreiben zwei Aspekte und mögliche Reaktionen auf die zunehmend allgegenwärtige digitale Informations- und Kommunikations-Technologie (IuK):

a) Die Notwendigkeit der unterbrechungsfreien Konzentration, um nachdenken zu können, die geräte- und medienfreie Zeit der Muße –  hier stellvertretend beschrieben für das wissenschaftliche Arbeiten, bei der man nichts braucht außer Ruhe und einen wachen Geist.

Das ist das „klassische“ Bild des Gelehrten in seiner Studierstube. Es ist das Sinnbild eines in sich ruhenden, konzentriert arbeitenden Menschen, der unterbrechungsfrei (nach)denken und reflektieren kann. Dieser Bewusstseinszustand wird „autotelisch“ genannt, von „telos“, Zweck oder Ziel. „Auto“ bedeutet „selbst“, die Kombination entsprechend Selbstzweck oder „selbst Ziel sein“. Es beschreibt die Einheit von Handeln und Bewusstsein3. Dieses ungestörte „in sich Ruhen in Tätigkeit“, (im Gegensatz zur körperlichen Passivität bei Meditation und Kontemplation) steht in einer zunehmend technisierten und digitalisierten Welt mit permanenter Erreich- und Verfügbarkeit aller (Menschen, Geräte, Dienste) zur Disposition. Die Ablenkung durch (unkontrollierte) Unterbrechung ist bei Gigerenzer deshalb notwendig räumlich ausgelagert.

b) Die aktuelle „Philosophie“ des Auslagerns von „Wissen“ (Daten) ins Netz, auf das man bei Bedarf zugreift und die damit zusammenhängende Notwendigkeit des permanenten Netzzugriffs, die Online-Arbeit am Personal Computer (PC), Laptop, Smartphone, Tablet-PC, usw. bei gleichzeitiger Kakophonie der Geräte, Dienste und Meinungen im Netz.

Einer Kakophonie, die selbst bei einem überzeugten Internetverfechter und Computerveteranen wie Kelly zu Verunsicherung führt. Die von Kelly postulierte Unsicherheit ist dabei nicht die prinzipielle Unsicherheit jedes wissenschaftlichen Arbeitens, das vom sokratischen „Ich weiß, dass ich nicht(s) weiß“ bis zu den Popperschen „Meinungen“ reicht, die permanent zu validieren und zu falsifizieren seien und der „Logik der Forschung“ 4 entspringt. Kelley formuliert die Hilflosigkeit gegenüber unstrukturierten, sich widersprechenden Quellen, die gleichwohl allesamt Gültigkeit, wenn nicht sogar „mehr“ einfordern: Expertenstatus. 5 Er thematisiert die schon rein quantitative Überforderung der Nutzer. Die von ihm angesprochene Unsicherheit thematisiert die Überforderung selbst des web- und computeraffinen, erwachsenen Wissenschaftlers und langjährigen IT-Entwicklers durch ein exponentiell steigendes Informationsangebot, den permanenten „information overflow“. Dazu kommt die potentielle Parallelnutzung mehrerer Dienste bzw. Programme gleichzeitig. Bei Radio- oder Fernsehapparat stellt man einen Kanal ein und kann maximal zwischen den Kanälen wechseln (oder müsste mehrere Geräte nebeneinander aufstellen). Bei Rechnern laufen mehrere Anwendungen gleichzeitig. Moderne Rechner beherrschen „Multi-Tasking“ (paralleles Bearbeiten mehrerer Aufgaben). Beim Menschen – viele (möchten) glauben, sie seien so multitaskingfähig wie ein Prozessor – führt es  zu einer permanenten Überlastung mit entsprechenden psychischen und/oder physischen Problemen: medial erzeugtes ADS und ADHS vor allem bei Kindern, Burnout bei Erwachsenen, Konzentrationsschwächen bei allen.

Bella Digitalia. Brave New World, die erste.

Der ganze Beitrag als PDF: Lankau: Wenn Avatare mit Produmenten chatten (Buckow_15)

Quelle: Felsmann, Klaus-Dieter (Hrsg.) [Spielraum, 2012]: Medientechnologien vs. Handlungsstrategien: Der Spielraum des Rezipienten, Buckower Mediengespräche 15, München: kopaed, 2012