Vom Abschulen und Scheitern als Chance

Wer einen Einblick in demotivierende und im Kern inhumane Folgen des permanenten Umbaus der Bildungseinrichtungen werfen möchte, kann dies als Kolletaralschäden bei den Schwächsten in diesem System ablesen: gescheiterten Schüler(inne)n und Studienabbrechern.

Vom Abschulen

In den meisten Bundesländern (Ausnahmen: Bayern und Sachsen) entscheiden nicht mehr Lehrerinnen und Lehrer, auf welche weiterführende Schulen ihre Adlaten nach der Grundschule gehen, sondern die Eltern. Am Beispiel Hamburg zeigt sich, welche Folgen das haben kann. Dort sind die Gymnasien verpflichtet, alle Schüler(innen) der Umgebung aufzunehmen (die Entfernung zum Wohnort entscheidet). Dass das kein relevantes Kriterium für die Wahl zwischen Real-, Stadtteilschule und Gymnasium sein kann, zeigt die Quote derjenigen, die „abgeschult“ (aufgrund mangelnder Leistung der Schule verwiesen) werden (müssen). Diese Zahlen steigen, um knapp 38% vom Jahr 2012 zum Jahr 2013. Insgesamt 23% der Gymnasiasten wechseln bis zur zehnten Klasse zurück auf die Stadtteilschulen, in sozial schwierigen Vierteln sind es bis zu 58%.

Schulsenator Ties Rabe appelliert an die Gymnasien, die Förderung der Schüler(innen) zu intensivieren statt abzuschulen. Denkbar wäre auch, die Schulempfehlungen wieder stärker zu berücksichtigen, denn die Schnittmenge derjenigen ohne Gymnasialempfehlung (50%) mit denjenigen, die „abgeschult“ werden und an ihren neuen Schulen mit dem eigenen Scheitern zu kämpfen haben, ist prägnant. Intelligenter und auch für Schülerinnen und Schüler motivierender könnte sein, zunächst den mittleren Schulabschluss zu machen und, bei Eignung, die Oberstufe und (Fach)Hochschulreife anzuhängenx.

Im Klartext heißt das: Die Schulempfehlung wird vielen Kindern eher gerecht als der Ehrgeiz mancher Eltern. Als Ziel wird man eher die Durchlässigkeit der Schulformen und auch einen späteren Wechsel in die Oberstufe anstreben als alle Schüler(innen) gleich nach der Grundschule an Gymnasien anzumelden – und nach dem erzwungenen Abschulen umzumelden.

… und Scheitern als Chance (BMBF)

Vergleichbares gilt für den Einstieg ins Berufsleben. Parallel zur Verkürzung der Schulzeit (G8 statt G9) und der Verkürzung der Studiendauer (Bachelor und Master statt Diplom, Magister und Staatsexamen) wird politisch sowohl eine höhere Abiturienten- wie Akademikerquote (mindestens 50% eines Jahrgangs) gefordert. Hier ist das gleiche zu beobachten wie an Gymnasien: Ein erheblicher Teil der jungen Menschen scheitert.
Unter dem Titel „Neue Chancen in Handwerk, Handel und Industrie“ fördert das BMBF Modellprojekte zur Integration von Studienabbrechern in die berufliche Bildung. In der PM heißt es dazu: „Mit dem BMBF-Programm Jobstarter plus werden deshalb ab Januar 2015 unter anderem bundesweit Pilotprojekte zur Entwicklung und Erprobung von innovativen Modellen zur Integration von Studienabbrechern in die berufliche Bildung gefördert. (…) Bundesbildungsministerin Johanna Wanka sagte: “Vor dem Hintergrund der absehbaren Engpässe bei Fachkräften mit einer Berufsausbildung ist es auch erforderlich, leistungsstarke Jugendliche für die berufliche Aus- und Weiterbildung zu gewinnen. Hierzu zählen Studienabbrecher. Deshalb werden wir die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung verbessern und dabei auch Studienabbrechern neue Chancen in der beruflichen Bildung bieten. Denn die Berufsbildung öffnet interessante Karriereperspektiven und Studienabbrecher bringen häufig wichtige Vorqualifikationen mit.“

Warum erst an die Wand fahren?

Was Frau Wanka nicht sagt und nicht fragt ist, ob es nicht sinnvoller wäre, eine (vielleicht sogar verpflichtende) qualifizierte Beratung zur Wahl zwischen Berufsausbildung und Studium VOR dem Scheitern an einer HAW oder Universität anzubieten? Wenn der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH), Hans Peter Wollseifer, in der gleichen PM sekundiert, zur Studienberatung müsse künftig „… auch die Alternative der beruflichen Bildung gehören. Studienaussteiger sollten die Chance ergreifen, bei der Zukunftssicherung des Handwerks eine Führungsrolle zu spielen.” fragt man sich ebenfalls, warum das nur für Studienaussteiger eine Chance sein sollte und nicht der umgekehrte Weg angeboten (und positiv annonciert) wird: eine solide Ausbildung im Handwerk mit anschließendem Studium als Perspektive, als Vollstudium oder berufsbegleitend, je nach Situation.

Wer schon länger an Hochschulen unterrichtet, weiß, das die Zunahme der Hochschulzugangsberechtigungen nicht mit der Allgemeinen Hochschulreife korreliert (trotz im Schnitt besserer Abschlussnoten). Im Gegenteil. Die verkürzte Schulzeit führt in Verbindung mit dem Wegfall von Bundeswehr oder Zivildienst zwar zu einem früheren Studienbeginn, der aber nicht selten mit persönlicher Unreife einhergeht. Die Verschulung durch die Bachelor-/ Master-Umstellung (Stichwort: Bologna-Reform) tut ein übriges. „Studieren“ heißt heute oft nur, ausreichend Credit Points zu sammeln.
In Verbindung mit der Rundumversorgung (Stichwort „helicopter parents“, bei Erstsemesterveranstaltungen sind immer öfter Eltern dabei) und einer freiwilligen digitalen Entmündigung in sogenannten „social media“-Plattformen bleiben junge Menschen oft in ihrer Blase aus Hotel Mama, Schule und Netz-Community gefangen. Da wären Praktika, ein berufsvorbereitendes Jahr oder eine qualifizierte Ausbildung ein gutes Antidot, um den Kokon der Rundum-Behütung zu durchbrechen. Statt das Scheitern an einer Hochschule als „Chance” zu vermarkten, wäre der vorgelagerte Abschluss einer qualifizierten Ausbildung für viele sogar eine zusätzliche Motivation. Denn auch diese Erfahrung machen Lehrende: Wer eigene Erfahrungen aus der Berufswelt mitbringt, weiß in der Regel auch besser, warum er oder sie studiert.

Summa summarum: Statt alle auf den gleichen Weg schicken zu wollen – mit Gymnasium als neuer Regelschule und nicht immer sinnvoller Akademisierung von Ausbildungsberufen – sollte das duale Bildungssystem mit verschiedenen Qualifizierungswegen und unterschiedlichen Hochschulformen zwar optimiert werden und sich für Quereinstiege weiter öffnen, aber grundsätzlich  als besondere Qualität begriffen und stabilisiert werden anstatt es durch Vereinheitlichung und Gleichmacherei zu bagatellisieren.

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