Alte Muster oder Besinnung auf akademische Tradition?

Die Bologna-Reform – der Umbau von Universitäten und Hochschulen nach den Prämissen der Wirtschaft und verkürzt ökonomischen Denkmustern – ist in allen Punkten gescheitert. Die Abbrecherquoten sind konstant hoch (im Schnitt ein Drittel, in Ingenieursfächern z.T. bis zu 50%). Die Studiendauer ist durch Orientierungsjahr, oft notwendiges Vorstudium und die für vollakademische Berufe notwendigen Masterstudiengänge eher länger geworden. Dafür gehen weniger Studierende ins Ausland und zumindest die Bachelorstudiengänge sind zur Berufsausbildung entwertet. Das hindert die Exegeten der Bolognareform nicht, eine Rückbesinnung auf akademische und demokratische Traditionen als gestrig zu diffamieren.

Unter dem Titel „Zurück zu alten Mustern“ hat der noch amtierende Präsident der Universität Frankfurt, der Biochemiker und Mediziner Werner Müller-Esterl, in der Süddeutschen Zeitung vom 9. September (S. 2) beklagt, dass etliche Bundesländer ihre Universitäten wieder ans staatliche Gängelband legen wollten – zum Schaden der Wissenschaft. Dieser Beitrag zeigt noch einmal exemplarisch, wie sich Wirtschafts- und Industrieverbände unter der Leitung des Centrum der Hochschulentwicklung (CHE) einiger Rektoren bedienen, um die Bildungseinrichtungen auch des tertiären Bereichs unter die Kontrolle der Wirtschaftsverbände zu bringen (Bologna-Reform nach Maßgabe der OECD) bzw. unter Kontrolle zu halten (Widerstand gegen die notwendige Re-Demokratisierung der Hochschulen und ihrer Gremien).

Für diejenigen, die nicht aus dem Umfeld der Hochschulen kommen, sei daran erinnert, dass das CHE als Bertelsmann-Ableger die Aufgabe hat, die Vorgaben der OECD zum Umbau der nationalen Bildungseinrichtungen zu exekutieren – gegen die nationalen, demokratischen Strukturen und gegen die kulturelle Vielfalt der Bildungseinrichtungen der europäischen Länder. Die Bologna-Reform steht prototypisch für den Umbau aller Bildungseinrichtungen zu Unternehmen (Bildungsdienstleister), mit autoritären Entscheidungshierarchien und mit dem Ziel der Optimierung und Effizienzsteigerung von Produktionsprozessen.

Effiziente Produktion verlangt nach Normierung, Standardisierung und permanenter Kontrolle aller Prozesse. Das „Produkt“ sind Absolventen mit geprüften Kompetenzen. Dazu kommt der ständige Wettbewerb, der durch CHE-Rankings und permanente Eigen- und Fremdevaluationen realisiert wird, als wären Studium und Wissenschaft ein ständiger Wettkampf aller gegen alle. um sich auf dem „Bildungsmarkt“ zu positionieren bzw. zu behaupten. Aus Rektoren werden Direktoren, die zusammen mit den Hochschulräten die Geschicke „ihres“ Unternehmens steuern. Strategische und wissenschaftliche Entscheidungen treffen nicht mehr die paritätisch mit Hochschulangehörigen (Professoren, Mitarbeitern, Studierende) besetzten Fakultätsräte und Senate, sondern der mit Externen besetzte Hochschulrat, der u. a. den Rektor vorschlägt und den Senat überstimmen kann. (Auch Dekane etwa werden nicht mehr gewählt, sondern vom Rektor vorgeschlagen. Das Kollegium „darf“ zustimmen, was de facto heißt: Es hat keine Wahl.)

In der Praxis wurden die zu Beginn der 1970er-Jahre eingeführten demokratischen Strukturen der Hochschulen und Universitäten – die für autoritär strukturierte Hochschulvertreter ohnehin ein lästiges Relikt der Nach-68er-Jahre waren – mit dem Bologna-Prozess systematisch ausgehöhlt und durch hierarchische Führungsstrukturen ersetzt. Was Müller-Esterl jetzt beklagt, ist daher der Machtverlust der Rektorate und Hochschulräte durch die Rückbesinnung auf sowohl demokratische wie akademische Traditionen.

Hierarchie statt Argument: Hochschule als Unternehmen

Dabei muss man nur die Sprache analysieren, um die Verdrehung der Fakten aufzuzeigen. „Zynisch“ nennt Müller-Esterl das „Hochschulzukunftsgesetz“ der NRW-Wissenschaftsministerin Schulze, weil der Hochschulrat „als Aufsichtsorgan“ seine Macht wieder an Senat und Fakultäten zurückgeben soll. Zynisch hätten die Rektoren der Hochschulkonferenz (HRK) das „Hochschulfreiheitsgesetz“ von 2006 nennen müssen, mit dem die Hochschulen nach rein wirtschaftlicher Interessen geführt werden sollten. Denn zynisch ist nicht die Re-Demokratisierung von Bildungseinrichtungen, sondern deren Okkupation zwecks „Zurichtung von Humankapital“ für den Arbeitsmarkt, was schon Wilhelm von Humboldt als unangemessen für alle Schulformen bezeichnet hat.

Zu beklagen, dass die innere Organisation der Hochschulen durch die wieder größere Mitbestimmung der Kollegialorgane (Kollegien, Dekane, Senat) Schaden nehmen würde, ist autoritär und führungsgläubig gedacht. Wenn Müller-Esterl behauptet, der „Minimalkonsens der Gruppen- und Gremienuniversität sowie die staatliche Überregulierung“ hätten die „deutschen Bildungseinrichtungen in eine Sackgasse geführt“ und erst der „Wandel weg von staatlicher Bevormundung hin zu institutioneller Autonomie“ hätte die „deutschen Universitäten zu neuer Blüte gebracht; denn erstmals [seien] sie strategie- und handlungsfähig“, müssten Hochschul- und Wissenschaftsvertreter aller Couleur protestieren ob dieser Ignoranz gegenüber der eigenen Geschichte. Wer die über 800-jährige, so erfolgreiche wie vielfältige Tradition europäischer Universitäten leugnet und deren „Handlungsfähigkeit“ erst durch die neoliberale Engführung als Wirtschaftsunternehmen behauptet, zeigt neben historischen auch grundsätzliche Defizite im Verständnis von Wissenschaft, denn Wissenschaftsvielfalt zeigt sich nicht zuletzt in den spezifischen Fachkulturen mit je eigenen Sprachen, Fragestellungen und Methoden. Wer hier vereinheitlichend steuern und regeln will, steuert zielgenau an die Wand.

Wer dann noch die Ausrichtung sowohl der „passgenauen Studiengänge“ wie der Forschungsschwerpunkte der überhand nehmenden Auftragsforschung und damit den überall zu beobachtenden Ausverkauf der Wissenschaft als Erfolg beim Einwerben von Drittmitteln darstellt, belegt nur einmal mehr, dass auch die Besetzung der Rektorate in den letzten Jahren erfolgreich von externen Interessen in Form von Beratern und Stiftungen zumindest beeinflusst war. (Bei Amtsperioden von i. d. R. sechs Jahren sind mittlerweile so gut wie alle Rektorate auf CHE- und OECD-Linie getrimmt, so sie es nicht schon vorher waren.) Als Folge verstehen sich Hochschulen und Universitäten nicht selten von sich aus als Produktionsstätten für Schein-Akademiker im doppelten Wortsinn (Zertifikate-Sammler ohne fundiertes Fachwissen).

Besinnung auf akademische und demokratische Traditionen

Anstatt zu begrüßen, dass den z.T. selbstherrlich regierenden Hochschulräten und „Direktoren“ durch die Überarbeitung der Landeshochschulgesetze wieder demokratische Entscheidungsstrukturen entgegen gesetzt werden, spricht Müller-Esterl von neo-dirigistischen Trends – und verkennt, dass die neoliberalen dirigistischen Trends in den letzten 15 Jahren primär aus den Rektoraten und deren ausufernden Verwaltung mit expandierenden Stabsstellen für Hochschulsteuerung, Qualitätsmanagement, Evaluationen, Career-Centern usw. kamen. Auch das Gerede vom „Alleinstellungsmerkmal“ jeder einzelnen Hochschulform und der „Differenzierung der Hochschullandschaft“ sind Marketingphrasen aus der Produktwerbung und der Markenbildung, dem sogenannten „Branding“. Es verkennt die Eigenart von Bildungseinrichtungen vorsätzlich, da Universitäten und Hochschulen ihre Bedeutung nicht durch nicht durch Werbung bekommen, sondern durch Persönlichkeiten, wissenschaftliche Expertise und Akzeptanz in der Scientific Community.

Sich die Steigerung der Studierendenzahlen als Verdienst der Hochschulen anzurechnen ist bestenfalls absurd. Es ist politischer Wille, dass mindestens 50% eines Jahrgangs studieren – auch wenn weniger als die Hälfte dieser Studierenden studierfähig sind und in einer Ausbildung besser aufgehoben wären. (Die Entwertung und Aussagelosigkeit der „Allgemeinen Hochschulreife“ korreliert mit den zunehmend verpflichtenden Eingangsprüfungen, Stützkursen und Vorbereitungssemestern an den Hochschulen. Ein Großteil der Studienabbrüche ließe sich durch eine frühzeitige und vor allem ergebnisoffene Berufs- und Studienberatung vermeiden, mit positivem Nutzen für alle Beteiligten. Dann müsste man nicht das „Scheitern im Studium als Chance“ vermarkten. Die begleitenden Kollaterlaschäden sind im Dualen Bildungssystem zu betrachten, wo Lehrlinge insbesondere im Mittelstand (das Rückgrat der deutschen Wirtschaft) fehlen. Aber vielleicht soll ja in Deutschland die steigende Akademikerquote mit hohen Arbeitslosenquoten von jungen Erwachsenen mit Studienabschluss korrespondieren wie in Spanien oder Italien? Zumindest hätte man dann willige Praktikanten und niedrige Einstiegsgehälter …)

Summa summarum: Hier wird – wieder oder noch einmal – das Hohelied der unternehmerischen Hochschule zu Lasten sowohl der beruflichen wie der akademischen Bildung und vor allem zu Lasten von akademischer Freiheit und Eigenverantwortung gesungen. Propagiert werden stattdessen Hierarchien und Instruktionen, als wären Hochschulen und Unternehmen zu managen wie Unternehmen. Aber weder die wirtschaftliche noch die wissenschaftliche Zukunft der Bundesrepublik und Europas lässt sich mit Hochschuleinrichtungen und -absolventen gestalten, die dem verkürzt ökonomistischen Denken mit Elite und Exzellenz, mit Rankings und Drittmittelhysterie verpflichtet sind. Hierarchien, Direktiven und institutionalisierter Gehorsam sind weder innovativ noch zukunftsförderlich und erst recht nicht akademisch. Scuola und Academia sind Freiräume, keine Produktionsstätten und die „unternehmerische Hochschule“ des CHE eine von außen aufgezwungene Anomalie. Wissenschaft (und Kunst) leben von eigenständig, oft „quer“ denkenden Individuen. Daher sind die Rückbesinnung auf demokratische Entscheidungsstrukturen auf der einen und Freiheit für den/die Einzelne(n) auf der anderen Seite die zwei Seiten der selben Medaille bei der Rückbesinnung auf bewusst vielfältige, auch dem Inhalt und Sinn nach akademische Bildungseinrichtungen.

Sicher ist: Demokratische Entscheidungsfindungsprozesse und die argumentative Überzeugung von eigenständig Denkenden sind anstrengender als Anweisungen. Aber das nehmen alle gerne in Kauf, deren Profession die Förderung von Wissenschaft und Bildung sind.

Quellen: Werner Müller-Esterl: Zurück in alte Muster, SZ vom 9.9.2014, S. 2

Siehe auch: Der Schlussverkauf öffentlicher Bildung soll beginnen
Interview von Jens Wernicke mit dem PISA-Kritiker und stellvertretenden Geschäftsführer der Gesellschaft Bildung und Wissen Matthias Burchardt auf

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