Unter dem Titel „Vorbild Estland“ publizierte Florian Hartleb am 23. Mai 20115 in der Süddeutschen einen Gastkommentar über die Vorteile der Digitalisierung. Die kleine, baltische Republik mache vor, wie die Digitalisierung den Alltag erleichtere. Während Deutschland dem Fortschritt hinterherhinke, gäbe es die digitale Zukunft dort bereits zu entdecken. Eine SIM-Karte in Handy oder Tablet diene als universaler Personalausweis und Geldbörse. Man könne damit abstimmen (e-Voting), Firmen online gründen und die Steuererklärung abgeben. Alle Daten über Arztbesuche und Behandlungen seien ebenso auf der Karte gespeichert wie Rezepte und können – mit Einwilligung der Patienten natürlich – von Ärzten, Kliniken, Apotheken genutzt werden. Alle Schulen seien online, alle Schüler nutzen digitale Gerät. Bereits Grundschüler lernen programmieren. Wer mal fehlt, hole sich Stoff, Hausaufgaben und Korrekturen aus dem Web. Selbst Lehrpläne und Noten stünden dort. Das sei zeitgemäß. (In den USA ist das Sammeln und Auswerten von Schülerdaten verboten. Warum wohl?)
Alle 1,3 Mio. Bürger seien online. Seit dem Jahr 2000 habe jeder Bürger laut Verfassung Anspruch auf freien Netzzugang. Kostenlose Zugänge gebe es selbst an Bahnhöfen und Haltestellen.Eine individuelle ID (Identifikationsnummer) führe alle Daten einer Person zusammen, lebenslang. Der Bürger werde durch das Speichern der Daten zwar transparent, aber nur zu seinem Besten. Keine Wartezeiten, keine Fehlbehandlung, keine Verwechslung, dafür individuelle Angebote. Die Daten sind selbstredend sicher. Nach einem Cyberangriffen aus Russland 2007 sei das Land „nachhaltig für Risikominimierung und Sicherheit sensibilisiert“.
Hartlebs Text ist die übliche Mischung aus Digitalbegeisterung und ökonomisch verkürzter Argumentation. Der wahre Grund der Euphorie wird immerhin genannt: „Weltbank und Weltwirtschaftsforum stufen Estland regelmäßig als eines der Länder ein, in denen sich Geschäfte am einfachsten und effizientesten abwickeln lassen.“ Nur: Das Jahr 2015 ist das Jahr drei nach Snowden (Gerhart Baum in der SZ). Snowden ist Name und Symbol für die vollständige, anlasslose Sammlung und Auswertung personalisierter Daten möglichst aller Menschen. Geheimdienste und Digitalmonopolisten arbeiten, z.T. gesetzlich erzwungen, Hand in Hand. Der gläserne Mensch wiederum ist Ideal und Ziel totalitärer Systeme. Der Präsident des Europa-Parlaments, Martin Schulz, warnt vor dem „Technologischen Totalitarismus“ durch Digitaltechnik. Vollständige Transparenz ermögliche maximale Manipulierbarkeit des Einzelnen. Zugleich erlaubt eine digitale, technische Infrastruktur maximale staatliche Willkür. Die (noch demokratische) Türkei hat mehrmals Dienste wie Twitter oder YouTube abgeschaltet, weil Beiträge von Usern nicht genehm waren. Totalitäre Staaten wie China bauen konsequent eigene Netze auf und lassen nur eigene Dienste zu. Vollständige Kontrolle ist Ziel und Praxis. In autoritären Staaten organisiert man Proteste schon jetzt besser analog.
Kontrolle, Manipulation und Steuerung der Nutzer ist in demokratischen Staaten nicht weniger ausgeprägt. Nur sind es hier potente Unternehmen und es nennt sich Marketing, wenn hunderte oder tausende bezahlter Digitalworker gewünschte „Meinungen“ und Positionen im Netz verbreiten.
Wer für „Industrie 4.0“ eintritt, sollte sagen, dass Wirtschaftsspionage ganz offiziell zu den strategischen Zielen der NSA gehört (Strategic Mission J). So steht es in Strategiepapieren und auf der Website. Überraschend ist allenfalls, wie bereitwillig der Bundesnachrichtendienst (BND) den amerikanischen Partnern dabei zu helfen scheint.
Wer es für anachronistisch hält, dass Abgeordnete des Bundestages Akten auf Papier lesen und weitergeben, während estländische Parlamentarier „selbstverständlich“ nur digitale Dokumente tauschen, sollte ergänzen, das nicht geklärt ist, wer hinter den Hacker-Angriffen auf die Computersysteme des Deutschen Bundestags (Mai 2015) steckt. Selbst mit externer Hilfe ist es weder gelungen, das Computersystem von Schadsoftware (Malware, Trojaner) zu säubern noch gegen erneute Angriffe zu sichern. Die Rechner sind neu konfiguriert, erneute Angriffe sind zu erwarten. Vertrauliche Gespräche und geschützte Dokumente sind in demokratisch gewählten Parlamenten und Gremien aber von zentraler Bedeutung. „Ohne Privatsphäre und ohne Vertraulichkeit unserer Kommunikation gibt es keine freie Meinungsbildung und letztlich keine Demokratie“ (Gerhart Baum).
Statt weiterer Beispiele: Wer Widerstand gegen Wirtschaftsspionage und gläserne Bürger für typisch deutsche „Bedenkenträgerei“ hält, muss nur schauen, wie das Apple Design Lab arbeitet: offline. Dort entwickeln die besten Designer und Programmierer neue Hardware. Niemand bringt eigene Smartphones oder auch nur einen USB-Stick mit ins Lab. Intern sind alle Arbeitsplätze bestens ausgestattet, die Rechner vernetzt. Aber kein Rechner hat eine physische Verbindung ins Internet oder einen WLAN-Chip. Nur so konnte Steve Jobs, nur so kann heute Tim Cook bestimmen, wann neue Apple-Devices der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Sie wissen, dass man Rechner mit Netzanschluss nicht gegen unberechtigte Zugriffe absichern kann.
Sensibel sind nicht nur Konstruktionsdaten von Unternehmen, sondern personenbezogen Daten generell, Lernprofile von Schülern etwa oder Gesundheitsdaten. Bevor also Betriebe, Schulen, Behörden und z.B. Krankenhäuser Daten via SIM-Karte und Web austauschen, muss man rechtlich klären und technisch absichern, wer auf welche Daten zugreifen und was damit machen darf (!) – und was nicht. Das Primat des Rechts muss über den Begehrlichkeiten von IT-Unternehmen und Geheimdiensten stehen. Und ob die geforderte „Digitalisierung von Wirtschaft und Staat“ außer der IT-Industrie und wenigen Datenmonopolisten tatsächlich mehr nutzt als schadet – diese Diskussion beginnt gerade erst.