Lernen nach Zahlen …

… lautete der Titel eines Beitrags zu „Digitaler Bildung“ in der Süddeutschen Zeitung. Es gibt zwar weder digitale noch digitalisierte Bildung. Bildung ist ein Persönlichkeitsmerkmal und zwingend an ein Individuum gebunden. Aber sei es drum. Wer in der Digitaldebatte nach Begriffslogik fragt, wird gleich ausgegrenzt.

Lernen nach Zahlen also – als Analogie zu „Malen nach Zahlen“ und Metapher für das isoliertes Lernen am Rechner und mit Software­ –  trifft es ganz gut. Diese Form des eLearning mit Online-Videos und Online-Testaufgaben hat mit Präsenz-Unterricht und Bildung in etwa so viel zu tun wie „Malen nach Zahlen“ mit Malerei und Kunst. Benannt wird mit dem Begriff „digitale Bildung“ daher  in diesem Fall der Einsatz einer technischen Infrastruktur (Rechner, Netzwerken, Software), um digitale Medien auch an Schulen einsetzen zu können. Die Fragen dabei sind nicht, ob digitale Medien (wie vordem analoge) für Unterricht genutzt werden könnten. (Ja, wenn die Infrastruktur vorhanden ist und der Einsatz didaktisch sinnvoll wäre.), Die Fragen sind vielmehr:

  • Können digitale Medien den Präsenz-Unterricht ersetzen?
  • Und: Sind Lehrvideos und Begleitaufgaben schon Unterricht?

Digitale (Bildungs-)Märkte statt Unterricht

Beide Fragen werden von den SZ-Autoren bejaht, was nicht wundern kann, wenn man frühere Text und den Kontext kennt. Konkreter Anlass für den Beitrag in der SZ ist das gerade erschienene Buch „Die digitale Bildungsrevolution“ von Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt (beide Centrum für Hochschulentwicklung, CHE), in dem bekannte Forderungen zur Digitalisierung von Unterricht und Bildungseinrichtungen wiederholt werden. Klassischer Präsenz-Unterricht sei als ineffizient abzuschaffen, Lehrerinnen und Lehrer würden obsolet, da Rechner das Lehren übernähmen. Software würde die passenden Videos und Übungsaufgaben auswählen, am Bildschirm anzeigen und auch gleich die Lösungen der Übungsaufgaben auswerten, die die Schülerinnen und Schüler nach jedem Video machen. Die Inhalte würden vollständig automatisch zusammengestellt, das Angebot dank Empirie und Big Data ständig optimiert. (Die Auswahl der Lehrinhalte durch Software ist ebenso intransparent wie die Erstellung und Weitergabe automatisch generierten Lern- und Persönlichkeitsprofile.) Immerhin: Lehrende hätten durch Online-Kurse endlich Zeit für die wichtigeren Dinge als die Vermittlung von Stoff: Einzelbetreuung, Lernbegleitung und Sozialcoaching statt Unterricht.

In der SZ liest sich das dann so: „Einmal erstellt, lässt sich Lernsoftware millionenfach und günstig einsetzen“. Kosteneffizient mag das sein, über die Qualität der Lehrinhalte oder die Lernerfolge sagt das exakt nichts. Oder: „Die besten Pädagogen könnten das Standardwissen Tausenden Schülern in Videos vermitteln“. Aufgabe von Pädagogen ist nicht, Standardwissen zu vermitteln – dafür gibt es Lehrbücher, sondern Menschen zu unterrichten und über das Gelesene (oder als Lehrfilm Gesehene) zu diskutieren. Selbst der MIT-Chef Rafael Reif, an sich ein Befürworter digitaler Lehrangebote,benennt die Grenzen des selbständigen Lernens mit digitalen Medien. Er deklariert drei Formen von Wissen: das Lernen von bestehendem Wissen (durch Lektüre oder andere Lehrmedien), das Verbessern von bestehendem Wissen durch Dialog und Diskurs und die Anwendung des Wissens in der Praxis. Digitales Lernen könne nur für den ersten Teil, die Selbstlernphase, genutzt werden. Ohne die folgenden Präsenzphasen blieben Online-Kurse bestenfalls angelesenes (repetitives) Wissen. Aber das muss in Gütersloh (und München) nicht gelten.

Ausgeklammert werden die sozialen Folgen durch die Isolierung an Lernstationen genauso wie die Konditionierung auf Software und IT. Wer nur noch alleine am Rechner lernt, von Avataren belehrt und nur noch in Notfällen von Menschen betreut wird, wird zwangsläufig zum Sozialautist. Entsprechende Untersuchungen aus Amerika (Sherry Turkle) oder Asien belegen das. Argumentiert wird trotzdem mit normativen Setzungen: In den USA seien bereits weite Teile des Bildungswesens digitalisiert, Deutschland hinke dem Trend zur „Digitalisierung der Bildung“ hinterher, müsse aufholen etc.. Es ist das bekannte Hohelied des Digitalen und die Wiederholung der leidlich bekannten Argumentation einer Gütersloher Stiftung zur Digitalisierung, Privatisierung und Kommerzialisierung von Bildungseinrichtungen nach angelsächsischem Vorbild.

Kritische Fragen zum Einsatz digitaler Techniken im Unterricht (oder gar das Schauen von Videos als Unterricht) dürfen von Dräger und Müller-Eiselt nicht erwartet werden. Sie werden als Vorreiter für die Privatisierung und Kommerzialisierung von Bildungseinrichtungen bezahlt. Was sie inhaltlich publizieren, ist jedoch weder zukunftsweisend noch revolutionär. Es ist vielmehr rückwärtsgewandt und reaktionär. Das isolierte Lernen an Display und Touchscreen ist Frontalunterricht par excellence, nur dass jetzt ein Algorithmus darüber bestimmt, was der/die Einzelne zu tun hat. Das programmierte Lernen der Behavioristen lässt grüßen, auch wenn die Lernmaschine jetzt ein Computer ist.

Erzogen werden autoritätshörige Menschen, die sich zuverlässig von Algorithmen und Avataren kontrollieren und steuern lassen. Das kann man als Erziehungssziel digitaler Zurichtung an Display und Touchscreen postulieren. Das im Buch beschriebene Szenario sieht auch genau so aus: Schülerinnen und Schüler kommen morgens in die Lernfabrik, schauen als erstes auf einen Bildschirm, um zu sehen, was ein Rechner über Nacht als ihr Arbeitspensum für den kommenden Tag ausgerechnet hat. Sie arbeiten dann tagsüber „selbständig“ das vorgegebene Programm ab und machen abends noch einen Onlinetest, aus dem der Rechner das Arbeitspensum für den nächsten Tag berechnet. Am nächsten Morgen schauen sie wieder als erstes auf den großen Bildschirm … Das erinnert zwar (zumindest den Autor) eher an ein Straflager als an einen Schulalltag in einem demokratischen und humanistischen Staat, aber wie sagt Eric Schmidt (Google): „Die meisten Menschen möchten, dass Google ihnen sagt, was sie als nächstes tun sollen.“ So betrachtet wäre das Buch von Dräger und Müller-Eiselt nur die Gütersloher Adaption der effizienten Steuerung der User in effizienten Lernkontrollszenarien …

Lernen nach Schablone …

Dabei ist der Titel „Lernen nach Zahlen“ an sich passend gewählt für das, was man mit digitalen Lehrmedien alleine (ohne Lehrkräfte, Mitschüler und Diskurs) an Lernstationen machen kann: vom Rechner vorgegebene Aufgaben abarbeiten und auf neue warten, die wiederum sofort bearbeitet und abgeprüft werden. Es ist wie beim „Malen nach Zahlen“. Fertig vorgemischte Farben aus durchnummerierten Farbtuben werden in vorgefertigte Schablonen und durchnummerierte Felder eingetragen: Alle Flächen mit der Nummer 1 werden mit der Farbe aus Tube 1 ausgemalt, alle Flächen mit der Nummer 2 mit Farbe aus Tube 2 usw. Alle Flächen sind möglichst bis zum Rand auszufüllen. Das gibt dann Bonuspunkte, hat aber mit Malen oder bildnerischem Gestalten so viel zu tun wie Sackhüpfen mit Klassischem Ballett oder Choreografien von Pina Bausch. Gelernt und geübt werden soll schließlich nicht Malen und Gestalten, sondern das (nicht hinterfragte) Einhalten von Regeln und Erfüllen gestellter Aufgaben. Es entsteht auch kein eigenständiges Bild, sondern eine korrekt ausgefüllte Schablone. Das könnte zwar jeder Computer und Roboter besser, aber am Ende bedeutet „digitales Lernen“: Gewöhnt euch daran zu funktionieren wie die Maschinen?

Möglicherweise zeigt sich hier die tatsächliche Intention der geforderten Umstellung von interpersonalen Lehr- und Lernprozessen an Schulen und Hochschulen auf das automatisierte und digitalisierte Lernen: Neben der Vereinheitlichung und Normierung der Lerninhalte steht die effiziente Zurichtung von Befehlsempfängern. Der digital entmündigte Mensch wartet am Display auf Anweisung, was er als nächstes tun soll. In der Arbeitswelt wird als Option diskutiert, dass es künftig nur noch zwei Gruppen von Arbeitskräften geben könnte: „Diejenigen, die Computern sagen, was sie tun sollen – und jene, die von Computern gesagt bekommen, was sie tun sollen“. (Asteimer, 2015) Übertragen auf „digitale Bildung“ ließe sich adaptieren: Wenige bestimmen, was mit Rechnern und Software gelernt werden soll, während viele lernen, was ihnen ein Algorithmus vorsetzt. Das mag man in Gütersloh als „Digitale Bildung“ propagieren. Für Bildungseinrichtungen, die mündige Bürger erziehen sollen, ist das hingegen kein geeignetes Konzept.

Quellen

Der Beitrag als PDF: Lernen_nach_Zahlen…