Präsenzschule vs. Cloud-Teaching?

In Frankreich sollen auf Anordnung von Präsident Macron ab September 2018 die Schulen handyfrei werden, auch in den Pausen und auf dem Schulhof. In Deutschland hingegen sollen Schüler/innen und Lehrkräfte mit stationären und mobilen Geräten in der Schul-Cloud arbeiten.

Frankreich: Handy- und smartphonefrei Schulen

Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte es schon im Wahlprogramm versprochen: Neben erheblichen Investitionen in den Bildungsbereich stand die Verbannung von Mobiltelefonen aus allen Primar- und Sekundarschulen in seinem Manifest. Frankreichs Bildungsminister Jean-Michel Blanquer bestätigte im Dezember 2017 als Starttermin für das Verbot September 2018, den Beginn des neuen Schuljahrs. Die Intention: Schülerinnen und Schüler sollen sich in den Pausen mehr bewegen, spielen und miteinander reden statt auf Displays zu starren. „Heute spielen die Kinder nicht mehr in der Pause, sie stehen nur noch vor ihren Smartphones und das ist aus pädagogischer Sicht ein Problem“ sagte Blanquer in einem Interview. [1] Es sei eine Frage der „öffentlichen Gesundheit“, die dysfunktionale Nutzung von privaten, mobilen Geräten in der Schule zu reglementieren.

Das Verbot privater Geräte an Schulen wird nach diesem Plan komplettiert durch massive Investitionen in bessere Bildungschancen vor allem für sozial Benachteiligte. Neben Sofortinvestitionen von zunächst 15 Milliarden Euro (mit Schwerpunkt auf Berufs- und Weiterbildung für wenig qualifizierte Arbeitnehmer) sollen mehr als 4000 Lehrkräfte, speziell für Grundschulen eingestellt und die Klassengröße verkleinert werden. Dazu kommen Geldprämien für Firmen, die junge Menschen aus sozial schwierigen Vierteln einstellen und ein Gratis-Kulturpass im Wert von 500 Euro für alle jungen Menschen ab 18 Jahren. Bei der Bildung liegt der Fokus in Frankreich damit eindeutig auf mehr Personal und direkter Betreuung. Lehren und Lernen funktioniert nun mal über Personen und Beziehung.

Deutschland: Mit Handy oder Smartphone in die Schul-Cloud

Während Frankreich die Notbremse zieht und private Geräte wegen ihres Ablenkungspotentials aus dem Unterricht verbannt, geht Deutschland den entgegengesetzten Weg. Das Hasso-Plattner-Institut (HPI) entwickelt in Kooperation mit dem nationalen Excellence-Schulnetzwerk MINT-EC und gefördert vom BMBF eine Schulcloud [2] und hat im Dezember 2017 einen Demo-Zugang freigeschaltet. [3] Im Fact-Sheet auf der HPI-Seite [4] steht dazu:

„Interessierte Nutzer/innen können neueste Software & Bildungsinhalte über die Schul-Cloud beziehen, während sich Expert/innen um deren sichere Konfiguration & Aktualisierung kümmern. Die Schulen brauchen keine Server anzuschaffen & zu administrieren, sondern greifen von schlanken Endgeräten webbasiert über die Schul-Cloud auf vielfältige Angebote zu.“

In der Kurzbeschreibung „Ein Pilotprojekt zur Modernisierung des Schulunterrichts“ auf dem HPI-Server [5] liest man dann die übliche Mischung aus Digitalwerbung und Technikversprechen. Eine moderne Lehr- und Lerninfrastruktur etwa sei „unabdingbar, um die digitale Transformation im Bildungssektor zum Erfolg zu führen.“ (S. 1) Ausgeblendet wird, dass das, was Schule und Lernen ausmacht, nicht digitalisieren lässt. Für Bildung gilt das umso mehr. Nicht die technische Infrastruktur, sondern das menschliche Miteinander im sozialen Raum entscheiden über das Gelingen von Lernprozessen. Ob man Kinder „optimal auf das Leben in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft“ vorbereitet, indem man sie möglichst früh an das Arbeiten an Bildschirmen gewöhnt, darf daher aus Sicht der Pädagogik und Lernpsychologie, der Erziehungs- und Kognitionswissenschaft – wissenschaftlich belegt – bezweifelt werden. Wer aus der Schulpraxis kommt und die Studienlage kennt, weiß zum Beispiel, dass die Automatisierung und Medialisierung von Lernprozessen regelmäßig scheitert, wie es u.a. Claus Pias [6] beschrieben hat und sowohl OECD-, PISA- oder Hattie-Studie bestätigen.

Das Konzept der Schulcloud und Knewton

Bei Cloud-Konzepten werden Hardwareverwaltung, Updates und IT-Pflege i.d.R. ausgesourct. Interessanterweise steht über die dadurch entstehenden Kosten ebenso wenig im HPI-Papier wie über die Konsequenzen. Schule und Unterricht werden abhängig von einer externen technischen Infrastruktur. Programme, Zugänge und Nutzerdaten sind in der Anbieter-Cloud gespeichert. Ohne Netzzugang kann man weder auf Programme noch auf eigene Daten zugreifen. Man hängt buchstäblich im Netz der Cloudbetreiber. Was mit den Daten passiert, ist für die Nutzer weder transparent noch nachprüfbar. [7] Dafür ist die Umwandlung von öffentlichen Bildungseinrichtungen in Bildungsmärkte nach Wettbewerbskriterien explizit formuliert:

„Die Schul-Cloud wird dazu beitragen, einen prosperierenden Bildungsmarkt mit innovativen digitalen Bildungsprodukten zu etablieren. (…) Private und institutionelle Anbieter von Inhalten können diese über die Schul-Cloud anbieten. Die Angebote stehen allen Lehrkräften und Schülern zur Verfügung und müssen sich im Wettbewerb behaupten. Über integrierte Evaluationsmechanismen können die Lernprogramme bewertet und kommentiert werden, sodass diese beständig weiterentwickelt werden können.“ [5; S. 4]

Das Weiterentwickeln von Lernprogrammen anhand von Evaluationsmechanismen bedeutet in der Praxis, dass möglichst viele Daten erfasst und ausgewertet werden. Das kann bis zum möglichst vollständige Erfassen aller Schülerdaten und der Protokollierung aller Handlungen über den sogenannten Rückkanal führen, wie es z.B. Jose Ferreira für sein Programm Knewton beschreibt:

„Knewton durchleuchtet jeden, der das Lernprogramm nutzt. Die Software beobachtet und speichert minutiös, was, wie und in welchem Tempo ein Schüler lernt. Jede Reaktion des Nutzers, jeder Mausklick und jeder Tastenanschlag, jede richtige und jede falsche Antwort, jeder Seitenaufruf und jeder Abbruch wird erfasst. (…) Jeden Tag sammeln wir tausende von Datenpunkten von jedem Schüler. sagt Ferreira stolz. Diese Daten werden analysiert und zur Optimierung der persönlichen Lernwege genutzt. Komplexe Algorithmen schnüren individuelle Lernpakete für jeden einzelnen Schüler, deren Inhalt und Tempo sich fortlaufend anpassen, bei Bedarf im Minutentakt.“ [7]

Ohne personenbezogene Daten ist eine „individualisierte“ oder „personalisierte“ Anpassung an den einzelnen Lernenden nicht möglich. Bei Lern-Programmen (nicht nur) in der Cloud heißt der Begriff dafür Learning Analytics. In der Praxis von Knewton, Google Classroom oder Apple bedeutet das schon heute nicht mehr nur „Big Brother is watching you“, sondern „Big Brother is teaching your Children.“

Learning Analytics

Big Data-Technologien und die Identifizierung der Nutzer sind nicht nur die Grundlage für Social-Media-Anwendungen, sondern für jedes sogenannte „individualisierte“ oder „personalisierte“ Angebot, für das möglichste viele Daten über jede(n) Nutzer(in) erfasst und per Mustererkennung ausgewertet werden. Der Mensch im Netz ist nur ein Muster und Datensatz. Für den Bildungsbereich formuliert Prof. Dirk Ifenthaler (Universität Mannheim) die Reichweite dieser Datensammlung (Big Data für Lernprozesse) wie folgt:

„Mithilfe von Learning Analytics können datenbasierte Auskünfte über das Lernverhalten, Lernaktivitäten und Einstellungen in Echtzeit während des Lernprozesses erfasst und im weiteren Verlauf berücksichtigt werden. Somit werden individuelle dynamische Curricula und Echtzeit-Feedback möglich.“ [8]

In der Praxis werden Lernende dafür vollständig per Kamera und Mikrofon aufgezeichnet und alle Aktionen – jeder Mausklick, jede Eingabe und auch jede Korrektur von Eingaben – ausgewertet. In Forschungsprojekten werden zusätzlich Sensoren auf Arme und Kopfhaut geklebt, um Körperfunktionen und psychische Reaktionen (Stress, Erschöpfung, Angst u.ä.) zu messen. Dabei würden würden laut Ifenthaler im Idealfall folgende Daten mit einbezogen:

  • Merkmale der Lernenden (Interesse, Vorwissen, akademische Leistungen, Ergebnisse standardisierter Tests, Kompetenzniveau;
  • soziodemografische Daten; das soziale Umfeld (Persönliches Netzwerk, Interaktionen, Präferenzen hinsichtlich sozialer Medien);
  • externe Daten (Aktuelle Geschehnisse, Ortsangaben, Emotionen, Motivation. [9]

Dadurch könnten im Lernkontext „Bedürfnisse der Lernenden frühzeitig erkannt und individuell auf sie reagiert werden.“ Das bedeutet im Klartext aber auch: Mit Learning Analytics werden komplette Lern- und Persönlichkeitsprofile erstellt und das soziokulturelle Umfeld ebenso ausgewertet wie psychosoziale Merkmale der Lernenden. Diese Profile sind derart umfangreich, dass das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Lernenden gar nicht mehr gewährleistet werden kann, sobald jemand Zugriff auf diese Daten und Profile hat.

Das ist nicht nur juristisch fragwürdig, sondern vor allem pädagogisch abwegig. Ziel von Lernprozessen ist ja nicht Messbarkeit oder ein möglichst exaktes Lernvermessungsprotokoll, sondern Persönlichkeitsentwicklung und (Fach-)Verständnis. Es ist zugleich ein massiver Eingriff in Bildungs- und Erwerbsbiographien, wenn aufgrund dieser Daten nicht nur Lernangebote, sondern auch Berufswege oder Studiengänge vorbestimmt werden (sollen).

Wer sich vergegenwärtigt, dass Daten der Schmierstoff und das Gold des 21. Jh. sind, wird nicht darauf vertrauen, dass solch detaillierten Datensätze ungenutzt bleiben. Auch ein vermeintliches Anonymisieren der Datensätze hilft nicht. Das bestätigen Forensikern. Es ist nur eine Frage des Aufwands, anonymisierte Datensätze zu re-personalisieren. Und wie anfällig selbst mehrfach gesicherte Netzwerke im Netz sind, zeigt der im Februar bekannt gewordene Angriff auf das IVBB-Netzwerk des Bundes (Informationsverbund Berlin Bonn).

Lernen als Data Mining vs. Lernen in der Schule

Es ist eine Frage des logischen Denkens, welche Absicht hinter dem Cloudcomputing steht. Auf der einen Seite werden Schülerinnen und Schüler samt Lehrkräften mit (zunächst) kostenlosen Diensten ins Netz gelockt. Apple und Google etwa statten schon heute ganze Schulen mit Hard- und Software sowie Clouddienstleistungen aus und bestimmen dabei sogar die Lehrinhalte, etwa durch Programmierkurse. „Modernes Lernen“ wird behauptet, überregionale Kooperation und flexible Arbeitsgruppen versprochen. Dabei werden Lernende zu unfreiwilligen Datenspendern, der Prozess des Lernens wird zu einer Quelle von immer mehr Daten über jeden Einzelnen, wie man es aus den (a)sozialen Medien kennt.

Die französische Regierung holt mit dem Verbot der mobilen Geräte das Lernen wieder in die Schule und in die einzelne Klasse zurück und sperrt den Störenfried und Ablenkungskönig Smartphone aus. In Deutschland hingegen fördert das BMBF die Entwicklung und Erprobung einer Schul-Cloud, um Schüler/innen und Lehrkräfte auch mit privaten Geräten ins Netz zu schicken.

Macron wird u.a. von seiner Frau beraten, die über 30 Jahre an französischen Schulen unterrichtet hat. Die (beim Schreiben des Beitrags noch amtierende) Wissenschaftsministerin Wanka ließ sich u.a. von August-Wilhelm Scheer beraten, mehrfach Mitglied im Aufsichtsrat der SAP AG und 4 Jahre Präsident des IT-Branchenverbandes Bitkom. Zusammen mit Frau Wanka ist er Vorsitzender der vom BMBF gegründeten IT-Gipfel-Plattform »Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft« [11], die den Digitalpakt#D verantwortet.

Scheer ist zugleich einer der Autoren des Saarbrücker Manifest von 2016, in dem gefordert wird, den grundgesetzlich geregelten Föderalismus der Länder (Stichworte Bildungshoheit, Kooperationsverbot) ebenso zu ändern wie Datenschutzbestimmungen, wenn IT-Projekte durch gesetzliche Vorgaben erschwert oder behindert würden. Der zweite Autor des Manifests ist Leiter des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz ( DFKI ), das »intelligente Lösungen für die Wissensgesellschaft« anbietet und die Grundlage für automatisierte, digitalisierte und personalisierte Lernmanagementsysteme (LMS) liefert.

So schließen sich die Kreise. Techniker vertrauen auf für sie einträgliche technische Lösungen. Es sind, in Anlehnung an das BMBF-Hightech-Strategie-Papier von 2011 zu„Industrie 4.0“, Visionen für die möglichst vollautomatische „Produktion von Humankapital mit validierten Kompetenzen“ – als wären Menschen Objekt und Produkt statt Subjekt. Man kann das als „Bildung 4.0“ apostrophieren. Es ist eine Dystopie. Die technische Parameter für Automatisierung und Prozessoptimierung aus dem Qualitätsmanagement (QM) sind für Sozialsysteme generell ungeeignet. Dazu muss man allerdings die digitale Brille (ob augmented oder virtuell) absetzen. Denn nicht „die Welt“ ist digital, sondern nur technische Systeme. Diese aber sollten Werkzeuge im Dienst der Menschen sein und nicht Kontroll- und Steuerungsinstrument im Dienst und zum Nutzen weniger IT-Monopole.Was bei diesen technischen Phantasien fehlt, ist das Verständnis für elementare menschliche Entwicklungs- und Lernprozesse. Es fehlt die Ausdifferenzierung nach Lebensalter, Fachinhalten, Lernsituationen und Persönlichkeiten. Es fehlt: der Mensch.

Der ganze Bericht als PDF: Präsenzschule vs. Schulcloud

Quellen

1 https://www.thelocal.fr/20171211/france-to-ban-mobile-phones-in-schools
2 https://hpi.de/open-campus/hpi-initiativen/schul-cloud/;
3 Demo-Zugang: https://schul-cloud.org/. Zitat: „Das Hasso-Plattner-Institut für Digital Engineering entwickelt unter der Leitung von Prof. Dr. Christoph Meinel zusammen mit dem MINT EC, einem bundesweiten Exzellenznetzwerk von knapp 300 Schulen und unterstützt vom Bundesministerium für Forschung und Bildung eine Schul-Cloud.“
4 Fact-Sheet: https://hpi.de/fileadmin/user_upload/hpi/dokumente/flyer/Fact_Sheet_Schul-Cloud.pdf
5 Kurzbeschreibung: https://hpi.de/fileadmin/user_upload/hpi/dokumente/publikationen/projekte/schul-cloud_beschreibung_website.pdf
6 Siehe Claus Pias ( 2013 ): Eine kurze Geschichte der Unterrichtsmaschinen, FAZ vom 10 . Dezember 2013 ; www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/automatisierung-der-lehre-eine-kurze-geschichte-der-unterrichtsmaschinen-12692010.html
7 Knop, Carsten (2018)Wem gehört unser digitaler Zwilling? FAZ vom 19.2.2018, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/software-weckruf-behaltet-die-kontrolle-ueber-euer-digitales-ich-15448079.html
8 Dräger/Müller-Eiselt: Die digitale Bildungsrevolution, 2015, S. 24 f.
9 Ifenthaler, D.; Schumacher, C. (2016): Learning Analytics im Hochschulkontext. WiSt Heft 4. April 2016. S. 179
10 Ebda.
11 https://www.bildung-forschung.digital/de/plattform-digitalisierung-in-bildung-und-wissenschaft-1717.html