KI in der Bildung

Offenburger Professor Ralf Lankau: „ChatGPT ist eine Phrasenproduktionsmaschine“ (veröffentlicht am So, 16. April 2023 um 20:00 Uhr auf badische-zeitung.de)

Offenburg. Digitalisierung und Bildung, Diskussionen um den Umgang mit KI an Schulen, dazu ein sich verschärfender Lehrermangel: Ralf Lankau hat eine entschieden kritische Meinung dazu.

BZ: Was sind für Sie die wichtigsten „Lehren“ aus den vergangenen zwei Jahren für Schule und Bildung?

Lankau: Zahlreiche Studien während und nach der Coronazeit mit den Lockdowns und Fernunterricht zeigen, dass Lernleistungen drastisch gesunken und eklatante Lerndefizite selbst dann entstanden sind, wenn das Arbeiten mit digitalen Endgeräten in der Schule bereits Alltag war wie in den Niederlanden. Vergessen wurde: Schulen sind ein sozialer Schutzraum, zumal für viele Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten. Unterrichten ist ein Wechselspiel, das auf Beziehung, Bindung und Vertrauen beruht. Es braucht nicht nur immer neue Technik und Geräte, sondern den Lehrer, die Lehrerin, die den Unterricht strukturiert und den Klassenverband.

BZ: Schulen leiden an Lehrermangel. Können die Möglichkeiten von Digitalisierung und KI da nicht helfen?

Lankau: Die seit Jahrzehnten systematische und völlig unverständliche Fehlplanung der Kultusministerien zum Lehrerbedarf soll jetzt mit Digitaltechnik und Quereinsteigern gelöst werden, was meines Erachtens beides zum Scheitern verurteilt ist. Das Lehrdeputat soll nun ebenso erhöht werden wie das Renteneintrittsalter, die Klassen sollen größer und zum Teil hybrid unterrichtet werden, mit Schülern vor Ort und weiteren Schülern, die per Video zugeschaltet werden, Teilzeitarbeitsmöglichkeiten sollen beschränkt und Pensionäre reaktiviert werden, so die Vorschläge der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK). In den letzten Jahren wurde viel Geld ausgegeben für IT-Infrastruktur und technisches Personal an den Instituten für Qualitätsentwicklung, anstatt für die Ausbildung von Lehrkräften. Die Anforderungen der empirischen Bildungsforschung und das Ziel der „datengestützten Schulentwicklung“ sorgen für immer mehr bürokratischen Aufwand an den Schulen, denn hier sollen seit Jahren mehr und mehr Daten erfasst und bearbeitet werden. Anstatt zu entlasten sorgt die Digitalisierung für immer mehr Arbeit, die letztendlich für das Unterrichten fehlt. Der Unterricht durch Lernprogramme samt dahinter liegende KI, wie er seit einer Weile vorangetrieben wird, ist eine Vermessung von Lernleistung und hat nichts mehr von Unterrichten im Sinne von Wissensvermittlung und Anleitung zum selbstständigen Denken zu tun.

„,Die „Beredtheit’ in diesen Texten kann leicht über Halbwissen oder Unwissen hinwegtäuschen.“

BZ: Welche Reaktionen gibt es aus Bildung und Politik auf diese Erkenntnisse und auf die schlechten Ergebnisse von Vera, Pisa und anderen Vergleichsstudien?

Lankau: Bildungs- und Kultusministerien geben andere Antworten als Lehrerverbände, Lehrkräfte oder Eltern. Die Bildungspolitik wird seit Jahrzehnten durch die starke Einflussnahme der Wirtschaftsverbände und ihrer Stiftungen von Bertelsmann bis Telekom bestimmt. Es gibt Studien, wie die des Kollegen Tim Engartner zur Ökonomisierung schulischer Bildung und den Einfluss von DAX-Unternehmen auf Unterrichtsinhalte. Aus dieser Richtung kommen auch die Forderungen nach einer schnellen Digitalisierung der Schulen und die Konzepte des sogenannten „selbstorganisierten Lernens“(SOL). Die Studienergebnisse belegen ein Scheitern dieser Konzepte. Bei neoliberalen und technizistischen Konzepten geht es nicht um Menschen und ihre Lernbiografien, sondern um Arbeitskräfte. Lehrkräfte, Eltern und Schüler haben spätestens während der Lockdowns die Grenzen von Digitalisierung von Lernprozessen leidvoll erfahren. Aber Bildung ist ein Milliardengeschäft und so wird die Digitalisierung wie gehabt an den Schulen weiter vorangetrieben.

BZ: Derzeit herrscht ein regelrechter Hype über ChatGPT und auch Lehrer schwärmen von Arbeitsentlastung und Zeitersparnis.

Lankau: Auch die komplexeste „KI“ ist nichts anderes als eine Rechenmaschine, die zwar ungeheuer viel und schnell Daten verarbeitet, aber immer eine Rechenmaschine bleibt. Bei ChatGPT sind 1,7 Milliarden Parameter hinterlegt, die darüber entscheiden, wie Texte rekombiniert werden. Das Programm ordnet Worte und Textbausteine nach statistischen Wahrscheinlichkeiten an. ChatGPT ist im Kern eine Phrasenproduktionsmaschine, die vorhandene Texte nach bestimmten Kriterien neu arrangiert. Damit lassen sich Klausuraufgaben samt Musterlösungen formulieren, Referate erstellen, Gedichte oder Elternbriefe schreiben. Die „Beredtheit“ in diesen Texten kann leicht über Halbwissen oder Unwissen hinwegtäuschen und genau darin liegt die Gefahr, warnt zum Beispiel Holger Hoos, KI-Professor an der RWTH Aachen. Dazu kommt, dass sich die Algorithmen nach dem Prinzip des „machine learning“ ohne weitere menschliche Einflussnahme verändern. Man kann zwar nachbessern, etwa wenn das System rassistisch oder frauenfeindlich wird, weiß aber nicht, wieso und kann nur reagieren, anstatt aktiv zu gestalten Und vieles, was ChatBots generieren, ist schlicht falsch. Es sollte daher klar sein, dass solche Programme für Schule und Unterricht nicht brauchbar sind.

„Wir brauchen eine pädagogische Wende als Gegengewicht und Korrektur.“

BZ: Bei den rasanten technischen Entwicklungen und Veränderungen in der Gesellschaft: Wie sehen Sie eine sinnvolle Entwicklung im Bildungswesen?

Lankau: Wir brauchen eine pädagogische Wende als Gegengewicht und Korrektur der empirischen Wende der letzten Jahre, die immer kleinteiliger Lernleistungen vermisst, aber nur die wachsenden Defizite dokumentiert. „Nicht alles, was zählt, ist zählbar, und nicht alles, was zählbar ist, zählt“ wird im Netz als Zitat Albert Einstein zugeschrieben, auch wenn es wohl mehrere Quellen und mögliche Autoren gibt. Es geht beim Unterrichten nicht um Statistik, Empirie und Lernkontrolle, sondern um junge Menschen, die lernen müssen und wollen, um ihre eigene Zukunft zu gestalten. Das nenne ich die notwendige Rückbesinnung auf das Erziehen und Unterrichten als Kernaufgabe der Bildungseinrichtungen. Zurzeit arbeite ich an einem Grundlagenband mit Fachbeiträgen aus der Erziehungswissenschaft, Didaktik, Lernpsychologie, den Fachwissenschaften und der Praxis, dazu gibt es eine Website mit Beiträgen und eine weitere Fachtagung ist für 2024 geplant.

Ralf Lankau, Jahrgang 1961 ist seit 2002 Professor für Mediengestaltung und Theorie an der Hochschule Offenburg. Er hat sich mit Kolleginnen und Kollegen im Herbst 2022 bei einem Fachkongress in Offenburg mit den „Lehren aus der Pandemie“ und dem pädagogischen Auftrag von Schule auseinandergesetzt.