Angedockt und eingeloggt

Für knapp 33 Tausend Euro im Jahr kann man seine Kinder in einem privaten Internat in Oberbayern beschulen lassen, in dem nicht nur die „Kreidezeit“ (Wandtafel und Tafelkreide) beendet wurde, sondern 2013 das erste Abitur ohne Stift und Papier abgelegt werden kann.(1) Auch den (Schul)Alltag bestimmt der PC: Campus, Schul- und Internatszimmer sind mit schnellem WLAN vernetzt. Statt Schulbuch und Tafelanschrieb arbeiten Klassen- und Fachlehrer mit Beamern und projizierten 2D und 3D-Modellen. Übungsaufgaben für das „individuelle Lernen“ (am Laptop) stehen ebenso auf dem Server wie Hausaufgaben, die Wochenaktivitäten oder die (auch für Eltern einsehbaren) Notenblätter. Wer ins Klassenzimmer kommt, dockt als erstes sein Laptop an. Angedockt und eingeloggt in den „Info-Pool der Wissensgesellschaft“ lernen Schüler(inn)en „individuell, selbstbestimmt und effizient“. Heißt es.

Das ist, mit Verlaub, Unsinn. Projizierte 3D-Modelle, die man mit 3D-Brillen betrachtet, sind realen Modellen, die man in die Hand und auseinander nehmen kann, nicht überlegen. Das Lesen, Schreiben und Konzipieren am Display konditioniert nur auf die Arbeit am Display. Das Tippen und Wischen am Display unterschlägt die haptische Qualität des Schreibens auf unterschiedlichen Papieren, an der Tafel etc. Die stolz propagierte, vollständige Digitalisierung von Schule, Unterricht und Abitur ist ein normierender Angriff auf die Individualität der Lernenden und deren Bedürfnissen nach sinnlicher (aisthetischer) und körperlicher Erfahrung.
Die Zukunft des Lernens liegt – hinter uns

Man wird sich im Fall der erfolgreichen Okkupation der Schulen durch derlei Digitaltechniken den Begriff des Post-Lerners merken (müssen): Menschen, die zwar gekonnt auf der Klaviatur der jeweils aktuellen,digitalen Geräte (Smartphones, Tablets, Pods und Pads) jonglieren, jederzeit und überall vernetzt und online sind, gekonnt mit neuesten Features und Apps agieren – aber ohne ihren digitalen Zauberkasten (oder nur bei einem leeren Akku, bei Netz- oder Stromausfall) orientierungs- und hilflos sind. Das bedeutet: Die „Zukunft des Lernens“ liegt zeitlich hinter uns, wenn gilt: Lernen dient dazu, selbständig, eigenverantwortlich und handlungsfähig zu werden.

Und nebenbei: Der Mensch lernt – mit und trotz – digitaler Techniken analog. Der jeweilige Medieneinsatz in den (Hoch)Schulen spiegelt nur den jeweiligen Stand der Technik und die wirtschaftlichen Interessen der Hersteller. Wer sich nicht an immer neuen Geräten und Diensten berauscht, wer sich nicht blenden lässt von der multimedialen Überreizung eines bildschirmfixierten Publikums, sondern die Frage stellt, was man denn mit und an Computern lerne, was nicht anders gelernt werden könne – wird bei kritischer Analyse und Prüfung (oder Zurkenntnismahme der Metastudien) feststellen: Nichts, außer der Bedienung von Computern. Das aber lernen Kinder schneller als Erziehungsberechtigten und Dozenten.

Die heute Erziehenden und Lehrenden werden es als Aufgabe begreifen (müssen), den heutigen Schüler(inne(n) und Studierenden (wieder) unterbrechungsfreie Phasen und (Zeit)Räume nicht nur als aisthetische und mentale Qualität zu vermitteln, sondern diese Freiräume auch zu schaffen und als notwendigen Kontrapunkt zu alltäglichen Hast und Hektik zu vermitteln: als notwendige Daseins-Form des autarken und selbstreflexiven Individuums, als medienfreier Zeitraum der Besinnung und Kontemplation. Ziel ist, der digitalen und medialen Sedierung ein Ende zu setzen – der systematischen Infantilisierung und Entmündigung durch Geräte, Techniken und Dienste – und wieder „zurück ins echte Leben“ zu finden. Denn: Es gibt kein echtes Leben im digitalen. (2)

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(1) Christian Weber, : Google statt Gehirn, in: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 29./30. 9. 2012, S. 24
(2) Paraphrase zu Adorno „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Abschließender Satz des Aphorismus “Asyl für Obdachlose” (Nr. 18): Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp, Berlin/Frankfurt am Main 1951