Glaubt man Jörg Dräger vom Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), kann man „Bildung wie Anzüge von der Stange“ kaufen. So jedenfalls beginnt er seinen Beitrag in der ZEIT vom 21. November 2013, um neben der „Digitalisierung der Bildung“ deren „Personalisierung“ das Wort zu reden. „Personalisierung heißt dabei: Jeder klickt sich „individuell“ sein „Studium“ aus Lehrvideos zusammen.
„Jedem seine eigene Vorlesung“ titelt die ZEIT. Warum sollten sich Studenten mit einem „Angebot von der Stange zufriedengeben“ (gemeint ist das reguläre Präsenzstudium an einer deutschen Hochschule bzw. Universität), wenn es „individueller“ am Laptop oder Tablet-PC geht? Während das Angebot der Hochschulen für alle gleich sei („One size fits all, eine Größe passt allen.“), könnten sich Studierende im Online-Studium ihre Kurse nach persönlichen Interessen zusammenstellen. Wie das Müsli oder die persönliche Hitliste bei iTunes klickt man sich zusammen, was einem passt: „… persönlich zugeschnittene Bildung gibt es künftig auch übers Internet“. Die Zauberworte sind Digitalisierung, Online-Kurse und „Bildung“ als käufliches Produkt.
„Ein Gut verkauft sich übers Netz nicht nur massenhaft und damit günstiger, sondern auch personalisiert.“
Die zur Zeit diskutierten MOOC (Massive Open Online Courses) seien daher durch POOC (Personalized Open Online Courses) zu ersetzen. So kämen nicht nur die kleinen Lerngruppen der „Bildungsmaßschneider“ aus Oxford und Harvard in den Genuss personalisierter Lehre, sondern alle.
Jede(r) Lehrende wird den Kopf schütteln. Videos zu schauen und Multiple Choice-Fragen zu beantworten sind kein Studium. Es gibt zudem nichts ent-individualisierteres als Computerprogramme. Der Software ist gleich, wer vor dem Bildschirm sitzt und klickt. Programme arbeiten egalisierend.
Trotzdem: Das Arbeitspapier 174 „Die digitale (R)evolution? – Chancen und Risiken der Digitalisierung der akademischen Lehre“ dient dazu, Online-Universitäten wie das deutsche Pendant Iversity in Deutschland zu etablieren. Angekündigt wurde es mit „Digitalisierung der Hochschullehre: Potenziale noch weitgehend ungenutzt“. Während diese Form des „Online-Studiums“ in Amerika zunehmend in der Kritik steht, empfiehlt das CHE weiter die Automatisierung der Hochschullehre durch Digitalisierung.
Die Hauptforderungen des Arbeitspapiers: Standardisierung der Lehrveranstaltungen durch digitale Kurse, Austausch der einmal produzierten Kurse zwischen den Universitäten, Ersatz der bislang üblichen Lehrveranstaltungen durch MOOC und (Online-) Mentoren und Tutoren, mittelfristig Produktion der Kurse und als Folge auch Abnahme der Prüfungen durch Privatanbieter (Stichwort Identitätsmanagement). Das übergeordnete (wenn auch nicht explizit ausformulierte) Ziel ist die Auflösung staatlicher Bildungseinrichtungen als Lehranstalten:
„Langfristig ist denkbar, dass Hochschulen entstehen, welche überhaupt keine eigenen Lehrangebote mehr vorhalten …” (S. 42)
Ausgeblendet werden das Scheitern der Teilnehmer (durchschnittliche Abbruchquoten von mehr als 97%) und die Folgen (Lehrstühle werden schon heute mit Hinweis auf lizenzierbare Online-Kurse nicht mehr besetzt). In den USA protestieren die Professoren. Selbst ursprüngliche Protagonisten wie Mitchell Duneier (Princeton) verweigern die weitere Mitarbeit „solange MOOCs zu Budgetkürzungen an State Universities“ führen (zit. n. Kelleter). Auch der deutsche Gründer einer Online-Universität (Sebastian Thrun, Udacity) bekennt das Scheitern der MOOC („Wir haben ein schlechtes Produkt.“ zit. n. golem.de)) und macht seine Kurse mittlerweile kostenpflichtig, um durch die Studiengebühren (105 US $/Monat) persönliche Mentoren und die Betreuung der Teilnehmer finanzieren zu können. Selbst das missbrauchte Argument der „Demokratisierung der Bildung“ sticht nicht. Im CHE-Papier selbst ist nachzulesen, dass diese Form von Online-Kursen überwiegend von Menschen belegt werden, die bereits einen akademischen Abschluss hätten. Bildungsferne Menschen bleiben auch bei dieser Form des Angebots außen vor (wie man es vergleichbar von Bibliotheken kennt).
Zugleich wird der automatisierten Steuerung der Teilnehmer(innen) durch Software das Wort geredet. Das Programm „Knewton“ erkenne, wo jemand in Mathematik stehe und stelle die Lerneinheiten „individuell“ zusammen. In der New Yorker Reformschule berechne ein Computer „individuell“, woran eine Schülerin, ein Schüler am nächsten Tag arbeiten solle. Die mitlaufende Kamera im Laptop erkenne zudem, wann Schüler(innen) nicht mehr konzentriert seinen und die Software könne „individuell“ eingreifen. Am MIT Media Lab könne durch die Analyse der eMails der Studierenden der Studienerfolg vorausgesagt werden etc.pp. Digital heißt Kontrolle. Brave new world.
Keine Rede hingegen von der Hoheit der Bundesländer in Bildungsfragen. Keine Rede auch von der im Grundgesetz zugesicherten Freiheit der Lehre und Forschung, was sowohl gegen Monopolisierung wie zwangsweiser Digitalisierung spricht. Stattdessen fordern Pressemeldung wie Arbeitspapier die Änderung des geltenden Rechts an die Bedürfnisse der Anbieter „digitaler Bildung“. So lesen sich Drägers Beitrag wie das CHE-Papier als Blaupause zur Zerstörung staatlicher Universitäten. Kelleter fasst es in seinem „Der Online-Angriff auf den Unterricht“ in der FAZ zusammen:
„Die kreative Zerstörung institutioneller Routinen, von den Risikokapitalanleger aus dem Silicon Valley im Schumpeter-Sound schwärmen, wenn sie akademischen Administratoren den Einstieg ins MOOC-Geschäft empfehlen, könnte die unkreative Zerstörung der Universität als öffentliche Bildungsanstalt sein.“
Quellen und Links siehe PDF: Lankau: Bildung von der Stange