Digitale Medien und mobile Geräte gehören heute zur Lebenswirklichkeit der meisten Kinder und Jugendlichen. Laut Branchenverband BitCom haben spätestens mit 12 Jahren so gut wie alle Jugendlichen eigene Geräte und sind täglich online. Obwohl ein positiver Nutzen von Geräten, Apps und Tools im Unterricht bislang mit keiner Studie wissenschaftlich valide belegt werden konnte, wird flächendeckend und auf allen Kanälen für den Einsatz von Digitaltechnik in Schulen geworben. Von Wirtschaftsverbänden über Lobby-Verbände und Stiftungen bis zum Deutschen Bundestag mit seiner „Digitalen Agenda“ singen alle das Hohelied des Digitalen, als sei die Digitalisierung von Schule und Unterricht möglich und noch dazu sinnvoll. Beides ist falsch.
Unterricht ist immer und notwendig an Personen, an Lehrende und Lernende gebunden. Digital codiert sind, in Präsenz- und Online-Szenarien, nur die Medien. Das Netz dient als Distributionskanal (was aber durch den ständigen Rückkanal für gravierende, rechtliche Probleme durch den fehlenden Datenschutz sorgt). Und schließlich: Kein Mensch lernt digital. Die Kampagnen der Digitalpropheten sind zugleich demokratiefeindlich, weil die Alternativlosigkeit dieser Entwicklung ebenso behauptet wird wie die realen Konsequenzen wie Datenmissbrauch, Aufmerksamkeitsstörungen und Internetsucht schon bei Kindern u.a. ausgeblendet werden.
An Schulen wird die Einführung der Digitaltechniken im Unterricht – und als Folge der Einsatz von digitalen Medien als Unterricht! – dadurch vereinfacht, dass jetzt die sogenannten „Digital Natives“ als Lehrkräfte in den Schuldienst eintreten. Diese „Generation Y“ wurde bereits im Kleinkindalter mit digitalen Geräten sozialisiert und ist daher weder willens noch in der Lage, diese zunehmend allgegenwärtigen Gadgets und Dienste kritisch zu hinterfragen. Wer selbst eingesponnen ist in das Netz der permanenten Datenprostitution, wer Privatsphäre und Datenschutz für ein paar kostenlose Dienste und Likes preisgibt, findet auch nichts dabei, derlei Geräte im Unterricht einzusetzen.
Insbesondere im Kunst- als Gestaltungsunterricht scheinen digitale Geräte das Mittel der Wahl. Kann nicht so die Brücke geschlagen werden zwischen freien, künstlerischen Arbeiten und digitaler Medienproduktion? Basiert doch auch das bildnerische Arbeiten am Computer auf Gestaltungslehren, wie sie für die freien und die angewandten Künste vermittelt werden. Wäre womöglich das Gestalten mit digitalen Werkzeugen und Techniken somit die zeitgemäße Fortführung des traditionellen Kunst- als Gestaltungsunterrichts?
Kunstunterricht als Teil der ästhetisch-sinnlichen Erziehung erschließt durch eigene Praxis primär nicht sprachlich codierte Zeichen- und Sprachsysteme und vermittelt so der und dem Einzelnen aisthetische (sinnliche) und ästhetische Ausdrucksmöglichkeiten. Anschauliche Erkenntnis nennt das Konrad Fiedler für die Kunstbetrachtung: das Nachschaffen durch aktive, aufmerksame Rezeption von Kunstwerken. Gestalten als Akt des Erkennens durch eigenes Tun ist das Äquivalent für die bildnerische Praxis, wie es mit dem Begriff der Poiesis (dem Hervorbringen von Werken) bezeichnet wird. Kunstunterricht leitet an zu eigenem Experimentieren mit Darstellungstechniken und Ausdrucksformen, um eigene Ausdrucksmöglichkeiten entwickeln zu können und zugleich einen Zugang zu historischen Beständen der Kultur- und Kunstgeschichte zu bekommen. Keine Zukunft ohne Herkunft nennt das Odo Marquardt.
Wissenschaft und Kunst sind, für Individuum wie Gemeinschaft, die zwei Erkenntnisquellen für das noch nicht Bekannte, das noch nicht Verstandene. Experiment und Spiel sind die adäquaten Methoden des Erkundens. Künstlerisches wie wissenschaftliches Arbeiten haben als besondere Qualität die potentielle Offenheit aller Parameter und die generelle Wahlfreiheit der Mittel.
Auf die Idee, Mediengestaltung und -produktion als zeitgemäße Variante des Gestaltens in den Kunstunterricht zu integrieren (statt als Medienkunde und Medienanalyse in den Gemeinschafts- oder Sozialkundeunterricht oder Medienprojekt in der Oberstufe), kann daher nur kommen, wer die professionelle Medienproduktion nicht kennt. Denn kommerzielle Mediengestaltung und -produktion haben mit Bildender Kunst (Entwurf, Produktion wie Rezeption) nicht mehr gemeinsam als eine unverbindliche Schnittmenge an medialen Artefakten (Texte, Töne, Bilder), die als intentionale Bedeutungsträger in kommunikativen Kontexten dienen (sollen).
Künstlerisches Arbeiten als Prozess ist ergebnisoffen. Ob und was dabei entsteht, ist weder vorgegeben noch bestimmbar. Mediengestaltung bzw. -produktion hingegen sind sowohl im Prozess wie im Ergebnis weitestgehend determiniert, wenn man Produktionstechnik (wieder) als Produktionstechnik begreift und nicht vorsätzlich überhöht. Das Einarbeiten in die Softwarebedienung fördert keine gestalterischen Fähigkeiten, sondern trainiert den Umgang mit dem jeweiligen Programm. Die Optionen des Arbeitens mit dem Rechner werden durch die Kenntnis der Software bestimmt. Je besser man ein Programm bedienen kann, desto besser kann man das Programm bedienen. Nicht mehr, nicht weniger. Ob dabei mehr herauskommt als eine besonders schnelle oder effiziente Programmbedienung, ist offen. In der Mediengestaltung und -produktion sind schließlich keine Wissenschaftler oder Künstler gefragt, sondern Techniker, letztlich „Maschinenführer“, wenn man Rechner und Software als Produktionsumgebung für digitale Medien begreift. In den Ausbildungsberufen zur Mediengestalterin, zum Mediengestalter Print/Digital werden normierte und damit normierende Gestaltungslehren und Darstellungstechniken vermittelt und standardisierte, damit standardisierende Entwurfstechniken unter Einsatz von festen Gestaltungsrastern, Vorlagen und Templates eingeübt. Es werden Produktionsabläufe trainiert, die in der Praxis eine möglichst reibungslose und kosteneffiziente Produktionen bei austauschbarem Personal ermöglichen.
Arbeiten am Rechner konditioniert auf das Arbeiten am Rechner und gewöhnt Menschen an das Denken in Softwarestrukturen. So gesehen ist es stringent, wenn Peter Weibel als Leiter des ZKM/Karlsruhe und Apologet von Digital- und Medienkunst formuliert: „Zeitgenössische Medienkünstler müssen Hacker, Wissenschaftler oder Designer sein.“ (zit. n. Friz 2015) Für diese Bindestrich-Künste formuliert er die klare Bindung an Digitaltechnik und Abhängigkeit von technischer Infrastruktur. Was Weibel nicht sagt, aber mitzudenken ist: Wer programmiert, argumentiert notwendig in Maschinensprache. Syntax und Grammatik von Programmiersprachen sind eine technische Reduktion des Denkens auf binäre Logik (0/1, Ja/Nein, Bedingungsschleifen: if/then).
Binäre Logik mit ihren verkürzenden Dualismen ist dem menschlichen Denken an sich fremd, da es keinen Raum für das assoziative und intuitive Denken zulässt. Das Einüben in binäres Denken und algorithmische Logik ist eine Absage an Phantasie, Intuition und Imagination, da am Rechner nur realisiert wird, was sich in Code abbilden lässt. Gestalten im Sinn von Ideenfindung und Entwurf, als freies Assoziieren und Phantasieren, trennt man daher – im Agenturalltag und erst recht in der Schule – von technischen Geräten, um ohne Beschränkung Ideen frei entwickeln, skizzieren und modifizieren zu können.
Zwar wird versucht, Programmiersprachen und Code zu überhöhen (z.B. die Kampagne „Code ist poetry“), aber das wäre bestenfalls als Zitat der Futuristen zu lesen , würden Digitalisten sich in der Kunstgeschichte auskennen. (Bei der vorsätzlichen Verweigerung historischer Bezüge ist das nicht zu vermuten.) Der bekannteste Satz des futuristischen Manifests: „ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake“ liest sich daher wie eine Blaupause heutiger Digitaleuphoriker, die nicht nur zukünftige Kunstproduktionen und Kunstunterricht technisch determinieren zu können glauben (Bsp. Torsten Meyer „Next Art (and Media) Education“), dabei aber nicht einmal zwischen Medien und Kunst zu differenzieren vermögen.
Stattdessen wird der Computer mit Verweis auf den Soziologen Dirk Baecker zum Leitmedium und der Hacker in Weibel-Diktion zum neuen Helden stilisiert, „Kunst“ wird unterschiedslos zum „cultural hacking“ (Düllon/Liebl 2005) verkürzt. Wenn (als Paraphrase) „Next Art (and Media) Education“ tiefgründiges Wissen über Codes produziere, die Fähigkeit zur interaktiven Aneignung von Kultur in Form von Sample, Mashup, Hack und Remix entwickle und Kontrolle über die globale Lebenswirklichkeit nur in Formen von partizipativer Intelligenz und kollektiver Kreativität zu erlangen sei (Meyer 2013), sind das soziologische Begriffsgirlanden ohne Relevanz für Schule und Kunstunterricht. Denn das einzelne Exponat wird dabei ebenso negiert wie das selbständig handelnde und für sich entscheidende Individuum. Das aber: der und dem Einzelnen Handlungsoptionen und Entscheidungsspielräume zu eröffnen, ist fachübergreifend Ziel von Unterricht.
Die Entwertung des Kunstbegriffs durch seine Vertreter lässt für den Kontext Schule geraten erscheinen, gegen den Digitalwahn zu opponieren. Wer sich mit den Digitalisten des Silicon Valley und ihren Digital-Adventisten (den gläubigen „followern“) befasst, ist weniger von ihrer Markt-Dominanz beeindruckt als von der stringenten De-Humansierung und Technikgläubigkeit. Beides knüpft nahtlos an autokratische Traditionen des 20. Jh. an, ergänzt um kybernetische Allmachtsphantasien der Steuerbarkeit von Organismen und Gesellschaften. Nur der „Führer“ ist heute keine Einzelperson mehr, sondern ein als „intelligent“ postuliertes Computersystem. Digitaltechniken, heißt das, sind als Konzept und in der Unterrichtspaxis, Kontroll-, Überwachungs- und Steuerungsinstrumente – und damit für pädagogische Kontexte per se ungeeignet.
Für den Kunstunterricht wird man, statt dem sinnentleerten Kunstbegriff zu frönen, konkrete Gestaltungstechniken einsetzen. Anstatt Schülerinnen und Schüler am Rechner abzurichten, bietet das individuelle und manuelle gestalterische Arbeiten der beabsichtigten Normierung, Standardisierung und Instrumentalisierung von Individuen auch in der Schule Paroli. Primäre Aufgabe ästhetischer Erziehung heute ist, Kinder und Jugendliche mit einem humanen Verständnis von Schule, von interpersonalem Unterricht und Bildung der Persönlichkeit vertraut zu machen, das der gegenwärtig dominanten Definition des Menschen als Humankapital mit vermessenen und evaluierten Kompetenzen widerspricht.
Aufzulösen ist noch die Überschrift des bellenden Propellers. Damit schon Kinder zwischen sieben und elf Jahren das Programmieren lernen (sollen), gibt es Spielzeug wie die „Lego Education“-Kästen. Damit baut man z.B. ein Flugzeug mit Motor und Lautsprecher zusammen, das man anschließend per USB-Kabel an einen Laptop anschließt und mit vordefinierten Code-Bausteinen wie „Motor einschalten, Geräusch abspielen“ etc. „programmiert“. Da Kinder Code weder verstehen noch schreiben können, werden farbige Puzzle-Teile (= vordefinierte Software-Bausteine) als Puzzle zusammengesetzt. Sobald man das Programm startet, knattert der Propeller – oder bellt, wenn das falsche Puzzleteil (die falsche Sounddatei) an der Sound-Schnittstelle angedockt wurde. Was Kinder dabei lernen, ist, vorgefertigte Bausteine in die vorgesehenen „logische“ Reihenfolge zu bringen. So ist es zwar ein Kinderspiel, Propeller bellen zu lassen, aber programmieren lernt man so nicht. Und ohne Software wären die Kinder womöglich mit dem Flugzeug in der Hand herumgelaufen und hätten ihren „Sound“ dazu selbst gemacht.