Margie und die Lernmaschine

Medientechnik als Steuerungsinstrument von Lernprozessen

Der russisch-amerikanischer Biochemiker und Science-fiction-Schriftsteller Isaac Asimov (1920-1992) interessierte sich früh für die sogenannte „Künstliche Intelligenz“ (KI) und Roboter. In der Geschichte „Die Schule“ von 1954 beschreibt er, wie die Schule der Zukunft aussieht – oder genauer: dass es gar keine Schulen mehr gibt. Jedes Kind hat neben seinem Kinderzimmer im Elternhaus einen kleinen Schulraum, in dem es ein „mechanischer Lehrer“ (einer Maschine mit Bildschirm und Schlitz zum Einwerfen der Hausaufgaben) unterrichtet. Diese Lehrmaschine sei perfekt auf die Fähigkeiten jedes Kindes eingestellt und könne es so optimal beschulen. Heute heißt das „individualisiertes“ oder „personalisiertes“ Lernen. Die Denkfigur dahinter ist identisch: Eine Rechenmaschine, die für jeden Menschen die jeweils passenden Lerneinheiten berechnet und alle zum (vom System oder Programmentwicklern) vorgegebenen Ergebnis führt.

Asimov beschreibt mehr als ein halbes Jahrhundert vor den heutigen Lernmanagement-, genauer: Lernkontrollsystemen einen Apparat, der sowohl Lernziele wie passende Lernmethoden und die notwendigen Lernschritte vorgibt und auch Hausaufgaben korrigiert. Diese Maschine ist in Funktionsweise und Zielvorgaben für Nutzer (Schülerinnen und Schüler) wie Eltern intransparent – und autoritär. Zugleich wird Lernen auf automatisiert Prüfbares reduziert. Selbstbestimmtes Lernen, Neugier oder eigene Interessen sind nicht vorgesehen. Und so geht die Geschichte weiter: Ein 13-jähriger Junge findet beim Spielen auf dem Speicher ein altes Buch und erzählt der elfjährigen Margie, was drin steht. Dass es früher Geschichten nur in solchen gedruckten Büchern gab und die Schule ein Ort war, an dem menschliche Lehrer in einem Klassenzimmer einer ganzen Gruppe von Kindern etwas beibrachten. Das kann Margie nicht glauben und bettelt darum, das Buch selbst zu lesen. Doch die Mutter ruft sie zur Ordnung, sie müsse an ihre Schulmaschine. Während sie wieder alleine vor ihrer mechanischen Lernmaschine sitzt, stellt sich vor, wie es wohl wäre, mit anderen Kindern zusammen in einem Klassenraum zu lernen, gemeinsam zu spielen und sich gegenseitig zu helfen. Daraus leitet sich der Schlusssatz der Kurzgeschichte ab: „She was thinking about the fun they had“. Es zeigt, dass die Vertreter der Automatisierung und Steuerung von Lernprozessen unter dem Stichwort „Künstlichen Intelligenz“ (KI) schon in den 1950er Jahren daran glaubten, Schule und Unterricht an Rechner und Algorithmen delegieren zu können – und dass selbst Kinder wie Margie eine Vorstellung davon haben, dass es besser wäre, gemeinsam zu lernen statt alleine an einer Maschine zu sitzen, obwohl sie das gemeinsame Lernen gar nicht kannten.

Unterrichtsmaschinen und Lerngutprogrammierung*

Bereits um 1910 wurden im amerikanischen Rochester erstmals Filme im Unterricht verwendet. Thomas Edison proklamierte daraufhin begeistert, dass Bücher demnächst überflüssig würden, weil bald jeder Zweig des menschlichen Wissens durch Bewegtbilder lehrbar sei. 1923 veröffentlichte der renommierte Experimentalpsychologe Edward Thorndike ein Buch und schlug darin einen Apparat vor, der erst dann ein Häppchen Lernstoff nachliefere, wenn das vorangegangene verdaut und abgeprüft sei. Dieses Prinzip heißt bei heutigen Plattformen wie Moodle „Lernpfad“. Der Dozent gibt vor, nach welchen Kriterien wann welche Lehrmittel freigegeben werden.

Erziehung habe, so der Psychologe Pressey, der 1926 eine der ersten Lehrmaschinen konstruierte, den geringsten Wirkungsgrad aller denkbaren Unternehmungen. Darum müsse der Lehrbetrieb arbeitswissenschaftlich optimiert werden. „Im Klartext: Wie bekommt man mit möglichst wenig Ressourcen möglichst viel Stoff möglichst schnell in die Köpfe?“ (Pias 2013). Schon Pressey war sich bewusst, dass seine Vorschläge „sentimentale Gemüter zum Protest gegen die Erziehung durch die Maschinen aufrufen“ würden. Aber es gäbe Effektivitätsgewinne und es entstünden Freiräume. Würde, was beim Lernen maschinisierbar sei, maschiniert, könnten sich die Lehrenden besser auf das „Eigentliche“ konzentrieren, auf wahre Bildung, auf Erziehung und die erhöhte Freisetzung von Kreativität als Gegenpol zur automatisierten Beschulung.
Es sind die gleichen Versprechen, wie sie heute für eLearning-Programme und digitale Beschulungssysteme behauptet werden. Dazu gehört die versprochene „Individualisierung“, obwohl Algorithmen keine Individualität kennen, sondern nur Mustererkennung und Statistik, um vorgegebene Ziele zu erreichen. Das Prinzip immerhin ist bis heute identisch. Vorgefertigte Lehreinheiten werden nach Auswertung der Nutzereingaben angezeigt. Auch die Behauptung, menschliche Lernprozesse seien technisch medialisiert (Film, Lernsoftware) zu vermitteln, hat zwar bei Anbietern solcher Lernprogramme Bestand, begründet aber nur ihre Geschäftsmodelle. Ein entsprechendes System von Jose Ferreira heißt Knewton. Fritz Breithaupt spricht von „Talking Method“, wobei bereits Fünfjährige vor dem Rechner sitzen (sollen) und eine synthetische Computerstimme die Kinder beschult. Diese Stimme, mitsamt den ebenfalls lebenslang aufgezeichneten Lernaktivitäten, sei sogar die einzige Konstante in Lern- und Erwerbsbiografien. Big Brother is teaching you. Die Systeme seien einsatzbereit, so Breithaupt schon 2016. Es fehle nur der Feldversuch.

Zurück in die Zukunft: Kybernetik und Behaviorismus

Dieser Feldversuch läuft unter dem Label Dataismus. Diese Heilslehre der Digitalisten beschreibt Yuval Noah Harari in seinem Buch „Homo Deus“ so: „Menschen sind lediglich Instrumente, um das Internet der Dinge zu schaffen, das sich letztlich vom Planeten Erde aus auf die gesamte Galaxie und sogar das gesamte Universum ausbreiten könnte. Dieses kosmische Datenverarbeitungssystem wäre dann wie Gott.“ Ein technisches System „wie Gott“ entzieht sich jeder sachlichen Argumentation und ist Götzen- bzw. Sektenglauben.

Selbst das Innovationsversprechen ist ein Selbstwiderspruch. Digitaltechnik wird als zukunftsweisend behauptet, reaktiviert aber nur wissenschaftliche Modelle der 1940er und 1950er Jahre (Kybernetik und Behaviorismus). Zur Erinnerung: Die Kybernetik ist eine mathematische Theorie, die behauptet, mit den Methoden der Regelungs- und Steuerungstechnik nicht nur Maschinen, sondern auch Lebewesen (Organismen) und Sozialgemeinschaften regeln und steuern zu können. Der Behaviorismus ist das Konstrukt für das „programmierte Lernen“, das bereits Mitte des letzten Jahrhunderts gescheitert ist, aber aufgrund enorm gestiegenen Rechenkapazitäten und dem festen Glauben daran, alles berechnen zu können, eine Renaissance erlebt. Beide Theorien sind getragen von dem (Irr-)Glauben, alles quantifizieren und berechnen zu können. Es sind zugleich autokratische und deterministische Theorien, die dem Menschen Entscheidungsrechte und den freien Willen abnehmen, da technische System die „optimale Entscheidung“ vorgeben. Das war 1952 noch Science-fiction, seit spätestens 2016 ist es ein Forschungsprojekt von Google namens „Selfish Ledger“. Dieses „eigennützige-Hauptbuch“ (oder Kontenblatt) protokolliert lebenslang alle Handlungen eines Menschen und berechnet zukünftiges Handeln nicht nur für die eigene Person, sondern auch für nachfolgende Generationen: eine generationsübergreifende Manipulation menschlichen Verhaltens. Kritik sei nicht angebracht, so Google, das sei doch nur ein Forschungsprojekt. „Internetkonzerne und Geheimdienste wollen den determinierten Menschen“ schrieb 2014 der damalige EU-Ratspräsident Martin Schulz in der FAZ. „Wenn wir weiter frei sein wollen, müssen wir uns wehren und unsere Politik ändern.“

Big Data für Schulen

Ändern muss ich ist vor allem die aktuelle Bildungspolitik. Suchen doch Bildungs- wie Kultusministerien, beraten von IT-Verbänden, Telekommunikationsanbietern und Wirtschaftsvertretern, ihr Heil in einer möglichst umfassenden Digitalisierung. „Einmaleins und ABC nur mit PC“ hieß es 2016 aus dem BMBF (Wanka). „Jedes Kind sollte programmieren lernen“ fordert die derzeitige Ministerin Karliczek (2018). Konzepte gibt es schon für die Kita, auch wenn Kinder in diesem Alter weder Programmiersprachen beherrschen noch die Logik von Programmcode durchschauen. Doch vorgefertigte Bausteine nach Anleitung zusammenstecken, trainiert schon mal das angeleitete Arbeiten am Bildschirm. Ausgeblendet werden Funktionsweisen und Geschäftsmodelle der Daten-Ökonomie. Ausgeblendet werden alle datenschutzrechtlichen Fragestellung nach der neuen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und der darin fixierte besondere Schutz Minderjähriger. Auch die zentralen Forderungen nach Transparenz der Daten und Algorithmen, einer generellen Datensparsamkeit sowie Dezentralisierung und Datenhoheit bei den Nutzern widerspricht den Geschäftsmodellen der Datensammler.

Die Gretchenfrage der Bildungspolitik lautet daher: Wer bestimmt über Technik an Schulen? Sind es IT-Wirtschaft und Bildungsbürokratie mit ihrer Planwirtschaft aus Fünfjahresplänen (Digitalpakt#D) und der Forderung nach zentralisierten Strukturen (Bundes-Schulcloud)? Oder hört man auf Lehrkräfte und Pädagogen, (Lern)Psychologen und Erziehungswissenschaftler, die die Jugend auf eine stark digitalisierte und technisch determinierte Welt vorbereiten, indem sie sie lehren, Systeme zu verstehen und selbstbestimmt zu nutzen statt nur als Teil solcher Systeme zu funktionieren?

* Pias, Claus (2013): Eine kurze Geschichte der Unterrichtsmaschinen, FAZ vom 10. Dezember 2013

Der Text als PDF: Margie und die Lernmaschine