In Frankreich sind ab September 2018 private Handys, Tablets und Smartwatches an öffentlichen Schulen verboten. (1) Die Gründe dafür sind die gleichen wie in allen Ländern und Schulen: Die privaten Geräte der Unterhaltungselektronik haben ein großes Ablenkungspotential und stören die Aufmerksamkeit im Unterricht. Haben Kinder und Jugendlichen ihre Smartphones dabei, bewegen sie sich weniger in den Pausen. Die Kommunikation zwischen den Schüler/innen und Lehrern leidet ebenso wie das Schulklima. Alle starren auf ihre Touchscreens. Das ist nicht nur in Schulen zu
beobachten, die Folgen und Verhaltensänderungen sind inzwischen wissenschaftlich valide belegt.
Interessant sind die Reaktionen deutscher Bildungspolitiker/innen auf das Verbot im Nachbarland. Der Hamburger Schulsenator Ties Rabe reagiert spontan und emotional: Das Handyverbot sei „Quatsch“. Der Politiker forciert den Einsatz (privater) digitaler Geräte an Schulen und unterstützt die Vermessung des Menschen durch die empirische Bildungsforschung (Quantifizierung des Lernens durch den Aufbau einer Testindustrie mit Pisa, TIMMS & Co.). (2) Dazu sollte man wissen: Der Glaube an „die Macht der Daten“ und die Digitalisierung als Automatisierungstechnik sind die beiden tragenden Pfeiler der Ökonomisierung und Privatisierung der Global Education Industries (GEI).
Auch der derzeitige Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK), Helmut Holter, hält ein Verbot von Handys an Schulen für überflüssig. Die Schulen sollten über partielle oder generelle Verbote selbst entscheiden. (3) Möglichst pro digital, Smartphones gehörten schließlich zur Lebenswirklichkeit der Kinder und Jugendlichen. „Ein wesentlicher Aspekt der Strategie der KMK zur Bildung in der digitalen Welt besteht darin, unsere Kinder und Jugendlichen zu kompetenten Nutzern der digitalen Medien zu erziehen. Sie sollen sich also der Vorzüge bewusst sein, aber auch die Gefahren kennen, die mit dem Einsatz digitaler Medien verbunden sind.“ (4) Dass diese Erziehungsaufgabe ganz ohne private Smartphones im Unterricht gelingt – und eine typische Transferleistung von Schule ist – zeigt sich bei Themen wie häusliche Gewalt, Mobbing, Rassismus oder Drogensucht u.v.a. Sie werden in der Schule thematisiert und reflektiert (nicht praktiziert), um Schülern konkrete Handlungsoptionen zu vermitteln und so zu mündigen, selbstbestimmten Bürgern zu machen.
Das geht ganz ohne Rassismus oder Drogen in der Schule. Wie erfolgreich sich selbst IT-Kenntnisse ohne Rechner lernen lassen, zeigen Projekte wie „Computer Science Unplugged – Informatik ohne Computer!“. (5) Sie vermitteln die „notwendigen Denkwerkzeuge“ und lassen junge Menschen die (digitalen) Herausforderungen der Zukunft meistern: ganz ohne WLAN, Smartphones und Tablets.
Einen Grund dafür, warum deutsche (Bildungs)Politiker so vehement den Einsatz von privaten Smartphones und Tablets an Schule befürworten, liefert der Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann. Die Kosten, die auf sein Bundesland zukämen, wenn die Schulen wie gefordert mit digitaler Infrastruktur ausgestattet würden, wären für die öffentliche Hand zu hoch.Daher überlegt er auch, die Qualifizierung der Lehrer zumindest teilweise an Konzerne auszulagern. Schulen bräuchten doch eine „digitale Pädagogik“ und er sei „froh, dass die Autofirmen uns dabei jetzt unterstützen und ein Bündnis für die digitale Bildung entwickeln, bei dem pädagogisches Personal direkt bei den Unternehmen geschult wird.“ (6) Dass die Kosten aus dem Ruder laufen, bestätigte zuletzt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. Weder Länder noch Kommunen könnten sie allein stemmen, so dass sogar die Eltern mitfinanzieren müssten. (7) Dass die Lehrerausbildung bzw. Qualifizierung bei Konzernen gut aufgehoben wäre, darf bezweifelt werden.
Erstaunlich ist, dass weder nach dem Nutzen von IT, Tablets & Co. im Unterricht gefragt wird, noch naheliegende Alternativen berücksichtigt werden. Denn die erste Frage ist: Was sollen Kinder und Jugendliche denn genau lernen an Rechnern? Und wieso sollen es unbedingt Tablets und Smartphones sein, die der ehemalige Apple-Chef Steve Jobs als „Unterhaltungselektronik für Erwachsene“ bezeichnete?
Wer Rechner und Software als Werkzeuge vermitteln will, sollte besser Desktop-PCs und Laptops nutzen. Offline und nur im Intranet, um keine Schülerdaten ins Netz zu senden. Mit Tablets und Smartphones lässt sich der unkontrollierte Datenverkehr nicht verhindern – weshalb sie nach der EU-weit gültigen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) in Schulen nicht eingesetzt werden dürften. Wer hingegen nur im Intranet, offline und mit kabelgebundenem Netzzugang arbeitet, schützt nicht nur Daten, sondern zugleich die Kinder und Jugendlich vor der Strahlenbelastung des Funknetzes (WLAN).
Selbst Lehrkräfte müssen im Unterricht nicht online sein, wenn sie ihren Unterricht vorbereiten und benötigtes Material vorher aus dem Netz laden. Was ausgesprochen hilfreich und von den Kultusministerien zu initiieren wäre: ein Bildungsserver mit staatlich geprüften Lehrmaterial zum Download durch die Lehrkräfte auf ihre Dienst(!)-Laptops!
Anstelle weiterer praxisnaher Lösungen für ein schülergerechtes Arbeiten mit Rechnern, Software und Netzdiensten mag es hier genügen zu sagen: Es gibt konstruktive Lösungen für den Einsatz von IT an Schulen, ohne sich den Geschäftsmodellen der Datenökonomie und ihrem Datenhunger unterordnen zu müssen. Frankreich macht es vor.
Frankreichs Präsident Macron lässt sich von seiner Frau beraten, die über 30 Jahre an öffentlichen französischen Schulen unterrichtet hat. Die deutschen Bildungs- und Schulminister/innen werden von Arbeitgeber- und IT-Verbänden beraten, die sowohl gewünschte Inhalte (Wirtschaft, IT) in Bildungsplänen verankern wie Allgemeinbildende Schulen zu vorgelagerten Ausbildungsstätten für Betriebe und Unternehmen instrumentalisieren. Dazu gehört dann selbstredend die frühe Gewöhnung an das Arbeiten an Display und Touchscreen.
Präsident Macron hört als intelligenter Mensch auf seine Frau und ermöglicht den französischen Kindern und Jugendlichen dadurch eine humane und selbstbestimmte Zukunft. Chapeau. Frankreich ist revolutionär der Zeit voraus.
Der Beitrag als PDF: Handyfrei in Frankreichs Schulen
1 „Das Handyverbot wird an Vorschulen, Grundschulen und weiterführenden Schulen gelten. Es betrifft Kinder und Schüler im Alter von drei bis 15 Jahren. Französische Gymnasien (Lycées) haben die Möglichkeit, ebenfalls ein Handyverbot einzuführen, sind aber nicht dazu verpflichtet. Die neue Regelung sieht ein Komplettverbot internetfähiger Geräte wie Handys, Tablets und Smartwatches in allen Räumlichkeiten und bei schulischen Aktivitäten auch außerhalb des Schulgebäudes vor. Ausnahmen gibt es für den Gebrauch für den Unterricht selbst sowie für Kinder mit einer Behinderung.“ (Tagesschau vom 31.7.2018; https://www.tagesschau.de/ausland/frankreich-handyverbot-101.html (2.8.2019)
2 Wiarda, Jan-Martin (2018) Schulen: Der kühle Blick. Hamburgs Schulsystem war lange ein Sorgenkind, seit einigen Jahren aber geht es steil bergauf. Das hat viel mit Bildungssenator Ties Rabe zu tun – und seinem Glauben an die Macht der Daten. in: SZ vom 22.087.2018; https://www.sueddeutsche.de/bildung/schulen-der-kuehle-blick-1.4064279 (8.8.2018)
3 Thüringer Allgemeine (31.07.2018): KMK-Präsident Holter gegen Handy-Verbot an Schulen; Erfurt (dpa); https://www.thueringer-allgemeine.de/web/zgt/leben/detail/-/specific/KMK-Praesident-Holter-gegen-Handy-Verbot-an-Schulen-1146082360o (8.8.2018)
4 Hannoversche Allgemeine (HA, 31.7.2018): Deutschland. Welt Smartphone-Verbot KMK-Chef Holter: Handys in Unterricht einbeziehen; http://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/KMK-Chef-Holter-Handys-in-Unterricht-einbeziehen (8.8.2018)
5 https://www.einstieg-informatik.de/
6 Interview W. Kretschmann, Stuttgarter Zeitung, 24.07.2018, S. 9
7 „… selbst bei aberwitzig gering angesetztem Wartungsaufwand ein Bedarf an 2,8 Milliarden Euro jährlich“ (ohne Berufsschulen, die noch einmal 500 Mio. Euro/Jahr benötigen); Kaube, Jürgen (2018) Digital First Lady, FAZ v. 07.03.2018, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/digitalisierung-an-schulen-kommentar-zu-dorothee-baers-strategie-15480853.html (08.08.2018)