Über Digitaltechnik an Schulen wird seit 1984 gestritten, heute nur aktualisiert um Forderungen nach WLAN und mobilen Geräten. Nur Wenige erkennen dabei die Tragweite der intendierten Transformation von Bildungseinrichtungen zu einem Geschäftsfeld der Digitalwirtschaft und Datenökonomie.
Bei der Diskussion über Einsatz und Finanzierung von Digitaltechnik in Schulen geht es um mehr als digitale Infrastruktur oder das Lernen mit Rechner oder Tablet. Denn finanziell könnte der Bund die Schulen ganz ohne Grundgesetzänderung schon jetzt besser ausstatten. Durch eine geänderte Aufteilung der Gemeinschaftssteuern nach Artikel 106, Absatz III,GG ließen sich Steuereinnahmen in Milliardenhöhe zuweisen. Aktuell so geschehen bei der Unterstützung der Kommunen bei der Versorgung der Flüchtlinge. Für den Geldgeber Bund hat diese Finanzierungsart nur einen Haken: Er hätte dann keinen Einfluss auf die Verwendung der Mittel, weil Kommunen und Schulen vor Ort entscheiden, wo Investitionsbedarf besteht. Seine Digitalisierungs-Strategie ließe sich so nicht umsetzen.
Die Strategie basiert u.A. auf dem Glauben an die (Ver-)Messbarkeit und Steuerbarkeit auch von sozialen Einrichtungen nach den Parameter der produzierenden Industrie (Effizienz und Evidenz, Prozessoptimierung, Kostenreduktion). Die Instrumente des Qualitätsmanagement (QM) werden auf Bildungseinrichtungen übertragen. Dazu müssen die „Qualität“ von Lernprozessen als messbar behauptet, Werkzeuge zum Vermessen und Quantifizieren des Lernens entwickelt und an den Schulen eingesetzt werden.
Exemplarisch agiert Baden-Württemberg, dessen Testergebnisse beim IQB Bildungstrend 2016 miserabel ausfielen. Jeder fünfte Viertklässler verfehlt die von der Kultusminister-Konferenz gesetzten Mindeststandards in Rechtschreibung, jeder sechste in Mathematik. Nun werden zwei neue Institute gegründet: das Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) und das Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW). Bis zu 200 Mitarbeiter werden dafür eingestellt. Dank der Arbeiten dieser Institute soll die Lernqualität steigen. Messen, Steuern, Regeln und die Ausrichtung an Kennzahlen haben Hochkonjunktur – wie im Produktionsprozess.
Vorbild ist Hamburg. Der dortige Schulsenator Ties Rabe hat, als Reaktion auf das regelmäßig schlechte Abschneiden der Stadtstaaten in Schulvergleichstests, seit 2012/213 landeseigene, in den Jahrgängen 2, 3, 5, 7, 8 und 9 jährliche Tests eingeführt (Kermit: Kompetenzen ermitteln). Das dafür eingerichtete Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung konzipiert Test-Aufgaben, wertet diese Tests aus und leitet die Ergebnisse an Schulleitungen, Fachlehrer, Tutoren und Klassenlehrer sowie Schulaufsicht, Eltern und Schüler weiter. Die Kollegien in den Schulen sind aufgefordert, auf Basis dieser Daten Konzepte und Methoden zur Steigerung des Lernniveaus zu entwickeln. Nach zwölf Monaten wird wieder getestet.
In der Praxis bedeutet datengestützte Schulentwicklung: kleinteilige Lernstandserhebungen, regelmäßige Diagnose des Lernstands von Schüler/innen, Schulleistungsvergleiche (angeblich ohne Ranglisten) und Handreichungen zur ständigen Selbstevaluation. Bereits die Terminologie demonstriert den Wechsel von pädagogischen zu produktionstechnischen Präferenzen. Das Ziel: eine möglichst standardisierte und automatisiert prüfbare „Produktion von validierbaren Lernleistungen“.
Dass es zu Fehlanreizen kommen könnte, wird ausgeblendet. Fraglos lassen sich bessere Testergebnisse durch Üben erreichen. Schon jetzt wird beim PISA-Test Unterrichtszeit für die Testvorbereitung genutzt. Unterrichten wird zum „teaching to th test“. Was die Ausrichtung von Schulen auf Kennzahlen im Extrem bewirken kann, beschreibt Cathy O‘Neil in „Angriff der Algorithmen“. In den USA hängen die Arbeitsplätze der angestellten Lehrer und Boni der Rektoren vom guten Abschneiden in Standardtests ab. Das führt, wenn die pädagogische Arbeit aufgrund der Sozialstruktur der Schülerschaft alleine nicht reicht, bis zur Manipulation von Testergebnissen.
Das ist in Hamburg nicht der Fall, weil durch eine gute Lehrerversorgung, kleinere Klassen, Sprachförderung und Ganztagsbetreuung sowie der Verteilung der Mittel nach einem Sozialindex bessere Voraussetzungen geschaffen werden. Aber Rabes „Prinzip der freundlichen Belagerung“, mit Stärkung der Schulleitungen, mit Ziel- und Leistungsvereinbarungen, der Rekrutierung von „pädagogischem Personal“ statt Lehrkräften u.v.m. spricht eine klar betriebswirtschaftliche Sprache. Kennzahlengesteuerte Schulen ändern sich in ihrem Charakter und Selbstverständnis, da sie nurmehr von Jahr zu Jahr auf Testergebnisse zuarbeiten wie börsennotierte Unternehmen auf die Quartalszahlen.
Wer sich zum Ziel setzt Schulen in die Schulcloud zu bringen, braucht solch eine datenbasierte Schulentwicklung. Sie basiert auf möglichst vielen und exakten, idealiter personalisierten Daten. Das lässt sich am einfachsten realisieren, wenn eLearning-Programme in der Cloud laufen. Der Fachbegriff für das Auswerten von Anwenderdaten in (Hoch-)Schulen ist Learning Analytics.
Besonders effizient werden solche Messmethoden (Stichwort Netzwerkeffekt) durch die Zentralisierung. Es ist aus Sicht von Datensammlern daher kontraproduktiv, wenn die Bundesländer auf Dauer ihre föderale Hoheit in Bildungsfragen behalten und technisch proprietäre Lösungen einsetzen. Für Anbieter von IT-Services wie Lernprogrammen ideal wäre hingegen eine Bundes-Schulcloud. Sie ließe sich zu einer Bildungscloud weiterentwickeln, in der nach und nach immer mehr Daten der bundesweit Lernenden sowie die Angebote der bundesweiten Anbieter von Dienstleistungen zentral versammelt würden.
Wer Bildungseinrichtungen nicht aus der Logik der IT-Anbieter und Vertretern der Daten-Ökonomie heraus entwickelt, geht andere Wege. Dazu ein paar Grundsätze für organisatorische wie technische Lösungsansätze.
Der erste Grundsatz: Bildungseinrichtungen haben weder die Aufgabe noch das Ziel, personenbezogene Daten zu sammeln und Lernprofilen zu erstellen. Ziel ist, Wissen zu vermitteln, das Verstehen von Fachinhalten und Zusammenhängen zu ermöglichen und junge Menschen auf ihrem Weg zu eigenständigen Persönlichkeiten zu unterstützen, damit sie aktiver Teil der Sozial- und Solidargemeinschaft werden. Das lässt sich nicht automatisieren und nicht automatisiert prüfen, sondern braucht den direkten (interpersonalen) Dialog und Diskurs. Mögliche Hilfsmittel sind dabei – selbstredend staatlich geprüfte – Lehrmittel. Dafür müssen, neben analogen Bibliotheken und Materialsammlungen, auch digitale Angebote weiter ausgebaut werden, die schon heute von Landesinstituten und Lehrmittelanbieter entwickelt, auf den Landesbildungsservern bereit gestellt werden.
Der zweite Grundsatz: Lehrmaterialien der Schülerinnen und Schüler stellen die Schulen. Das – staatlich geprüfte und für den Unterricht zugelassene – Lehrmaterial und die Lernmittel müssen dafür auf Schul- bzw. Landesbildungsservern zur Verfügung stehen, nicht im Netz. Lehrende können dann geprüftes Material auf die Schulserver vor Ort kopieren und in der Schule via Intranet und für die Schüler lokal zur Verfügung stellen.
Die technische Basis dafür sind Open Source und Hybrid-Cloud-Systeme. Das Betriebssystem ist Linux. „Open“ heißt dabei hier nicht kostenlos, sondern: der Programmcode ist offengelegt und damit nachvollziehbar. Eine Hybrid-Cloud ist, wie das Edge Computing, eine Kombination aus offenen und geschlossenen Netzwerken. In der offenen Cloud können Lehrkräfte und Schulverwaltung Daten und Material über die landesweiten Bildungsserver austauschen. Im geschlossen Bereich an den Schulen laufen alle Anwendungen für die Schüler, die im Schul-Intranet nur lokal Daten vom Schulserver abrufen, hochladen und austauschen können, ohne dabei auch nur ein Bit ins Netz zu verlieren.
Hybrid-Cloud-Lösungen sind das Gegenkonzept zur Plattform-Ökonomie mit ihren intransparenten Daten-Silos, bei denen man sich als Nutzer mit Name und Passwort einloggt und anschließend nicht nachvollziehen kann, was mit den eigene Daten geschieht. Die Bedeutung dieser Technologie zeigt sich an der Übernahmen von Red Hat, einem kommerziellen Anbieter von Dienstleistungen für Linux-Umgebungen durch IBM für 34 Mrd. Dollar im Oktober 2018.
„Open“ nennen sich auch die Materialien der Open Education Ressources (OER). „Open“ heißt hier zwar tatsächlich kostenloses Unterrichtsmaterial, zumindest für einen Teil des Angebots. Dadurch sollen alle Interessierte Zugriff haben und sich ohne finanzielle Schranken weiterbilden können. Dieser im Kern emanzipatorische Gedanke wird aber in der Praxis oft durch Partikularinteressen unterlaufen, da bei solchen Web-Projekten i.d.R. nicht nachvollziehbar ist, wer diese Projekte finanziert (Stichwort deep lobbying) und welche Geschäftsinteressen bzw. -modelle dahinter stehen. Tim Engartner von der Uni Frankfurt etwa berichtet, dass 16 der 20 umsatzstärksten Unternehmen Deutschlands den Schulen kostenloses Unterrichtsmaterial zur Verfügung stellen.
Kinder sind die konsumfreudigste und vor allem beeinflussbarste Zielgruppe. „Der Kampf um die Köpfe der Kinder im Klassenzimmer ist somit voll entbrannt“ schreibt Engartner dazu. Auch der „Materialkompass“ des Bundesverband Verbraucherschutz sensibilisiert für die z.T. selektive Auswahl von Argumenten oder fehlender Multiperspektivität.
OER an Schulen öffnet der möglichen Einflussnahme durch Interessenverbände durch kostenloses Material Tür und Tor. Zu fordern ist daher wenigstens dreierlei. Bevor solches Material eingesetzt wird, muss die vollständige Transparenz der Finanzierung solcher Lehrmittel gewährleistet sein. Zwingend ist zweitens die staatliche Prüfung dieser Materialien vor dem Einsatz als Lehrmittel an Schulen. So halten es gegenwärtig 13 der 16 Bundesländer mit Schulbüchern. Diese Prüfungen müssen auf alle Materialien, einschließlich eLearning-Software und Apps, ausgeweitet werden. Zwingend ist drittens das Speichern auf Landesbildungsservern, denn bei offenen Projekten im Netz wie z.B. Wikipedia können die Datensätze jederzeit geändert werden.
Sinnvoll wäre, dass Länder und Kommunen sich mit den Lehrerverbänden zusammensetzen und klären, welche Medien(technik) und Infrastruktur aus Sicht der Schulen konkret gebraucht wird. Aufbauend auf bereits vorhanden Strukturen wie den Landesbildungsservern sollten nichtkommerzielle digitale Bibliotheken, Materialsammlungen und Webservices weiter entwickelt werden, mit denen Lehrkräfte und (in höheren Klassen) auch Schüler staatlich geprüftes Material nutzen können. Denn so, wie man die Konzeption der technische Ausstattung von Schulen nicht den Anbietern von IT-Infrastruktur überantworten kann, darf man weder Inhalte noch Distributionsform von Unterrichtsmaterial den (Digital-)Märkten und dem Wettbewerb überantworten. Andernfalls definiert man Bildung um zur Ressource und Bildungseinrichtungen um zu Gary Beckerschen „Produktionsstätten von Humankapital“ nach den Parametern der Daten-Ökonomie und Digitaltechnik.