Wer heutzutage zu einer Diskussion über Digitaltechnik in Schulen eingeladen wird, weiß, was einen üblicherweise erwartet: Das Hohelied des Digitalen. Was das Mantra der „autogerechten Stadt“ für die 1920er und wieder für die 1960er Jahre war, ist hundert Jahre später das Mantra der digitalgerechten, datenkompatiblen Bildungseinrichtungen. Das ist nicht neu und wird seit Mitte der 1980erJahre wiederholt, nur hat Covid-19 einen unreflektierten Digitalisierungsschub bewirkt. Dabei sollte, wer die digitale Heilslehre verkündet, auch hinter die Bildschirme schauen und die Akteure und deren Interessen benennen. Digitaltechnik ist ja kein Naturereignis. Anbieter dieser Technologien, wie deren Verkünder sind Digitali-Täter.* Anmerkungen zur Veranstaltung “Diskurs #Bildung und Digitalität” der Universität Marburg, Zentrum für Lehrerbildung** (10. März 2021).
Der Beitrag (8 Seiten) als PDF: Bildung und Digitali-Täter
Das Vexierbild der autogerechten Stadt als Metapher der industrialisierten und permanent mobilen Moderne wurde erstmalig in den 1920er Jahren in Berlin propagiert. Martin Wagner, Stadtrat für Hochbau und Leiter des Amtes für Stadtplanung, setzte sich erfolgreich für einen „automobilorientierten“ Stadtumbau ein. Stadtautobahnen und Hochstraßen gehörten in den 1920er Jahren ebenso dazu wie mehrspurige Autobahnen quer durch die Stadt, großzügige Parkplätze und Parkhäuser sowie, im Gegenzug, Unterführungen für Fußgänger und Radfahrer. Freie Fahrt dem Auto-Mobil. Nach 1945 nahm der West-Berliner Senat wesentliche Ideen Wagners für den autogerechten Umbau der Innenstadt auf. 1959 erschien das Buch „Die autogerechte Stadt – Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos“ von Hans-Bernhard Reichow. Alle Aspekte der Stadt- und Verkehrsplanung sollten sich dem ungehinderten Verkehrsfluss des Autos unterordnen. Was im Krieg stehen blieb, schleifte jetzt die Mobilitäts-Ideologie. Die Bedürfnisse nichtmotorisierter Verkehrsteilnehmer wurden ebenso wenig berücksichtigt wie ökologische Aspekte. Heute weiß man: Mehr Straßen bringen mehr Verkehr, Dreck und Lärm und gefährdet die körperliche wie psychische Gesundheit der Menschen durch Lärm, Stress und Luftverschmutzung.
An diese automobilfixierten Konzepte samt Unterordnung elementarer menschlicher Bedürfnisse unter die Interessen der motorisierten Verkehrsteilnehmer erinnern die heutigen Diskussionen über den Einsatz von Digitaltechnik (nicht nur) in Schulen. Und: So, wie die Konzepte der „autogerechten Stadt“ das Prinzip der Mobilität auf Auto-Mobilität verkürzten, reduzieren heutige Konzepte der Digitalisierung die Diskussion über den pädagogisch sinnvollen Einsatz von Medien (analog wie digital) im Unterricht i.d.R. auf Digitaltechnik. So wird etwa stolz verkündet, alle Grundschulen vor Ort hätten jetzt WLAN. Dumm nur, dass die Kinder aufgrund der Pandemie gerade zu Hause sind. Da hilft WLAN in Schulen nichts. Dumm auch, dass weder WLAN-Anschluss noch Endgeräten alleine als pädagogisches Konzept tragfähig sind. Ebenso könnte man einfacher Bücher ausliefern und sagen: Lernt mal schön lesen oder Musikinstrumente bereitstellen und auffordern: Musiziert mal fleißig.
Richtig doof wird dieser Technikpositivismus, wenn eine aktuelle Studie der Oxford University zur Schulschließung und Corona belegt, dass selbst eine sehr gute digitale Infrastruktur samt Endgeräten für alle Beteiligten nicht zum Unterrichtserfolg führen. Obwohl Niederländische Schulen als digitale Vorreiter gelten und die Ausstattung mit Geräten überdurchschnittlich gut ist, brachte der Fernunterricht per Netz kaum Lernfortschritte.
„Trotz des Onlineunterrichts hätten die Schülerinnen und Schüler “wenig bis nichts” gelernt, heißt es in der neuen Studie des Leverhulme Centre for Demographic Science. [Engzell et.al. 2020, rl] (…) Die Ergebnisse der Studie sind besonders besorgniserregend, da die Niederlande so viele Dinge richtig gemacht haben”, sagt Mitautor Arun Frey: Lehrer und Schulbeamte hätten “enorme Anstrengungen unternommen und die Regierung hat sogar Laptops für alle Kinder gekauft, die einen benötigen”. Trotzdem bestätigten die Ergebnisse des Onlineunterrichts “viele der schlimmsten Befürchtungen, die Pädagogen anfangs des ersten Lockdowns hatten”.“ (Spiegel, Nov. 2020)
Vermeintlich alles richtig gemacht und doch nichts gelernt? Technik allein scheint nicht der Schlüssel zum Erfolg zu sein. Sonderlich originell ist es auch nicht. Das Konzept medienbasierter Beschulung bei gleichzeitig automatisierter Leistungsmessung findet sich schon bei Comenius und seinem Orbus Sensualium pictus von 1653. Der Grundgedanke: Wenn alle Kinder die gleichen Illustrationen sehen, um die gleichen Vokabeln in Deutsch und Latein zu lernen, müssen auch alle Kinder die gleichen korrekten Antworten geben. Bei Comenius prüften noch billige Hilfslehrer auf richtig und falsch, diese Aufgabe übernehmen heute Computersysteme. Vergleichbar ist auch die starke Dominanz des Visuellen, bei Comenius Holzschnitte, heute auch Videos und Animationen. Allerdings waren Bilder bei Comenius eine Hilfe, um Lesen und Schreiben zu lernen, bevor man sich reinen Texten zuwandte. Heute wird die Vorherrschaft des Visuellen zu Lasten der Lektüre für alle Altersstufen propagiert – mit entsprechenden Folgen für Erwartungshaltung, Aufmerksamkeitsspannen und Konzentrationsfähigkeit beim Lesen. Vor allem aber entfällt der Transfer von Worten und Geschichten in eigene Vorstellungswelten. Die Bilder werden geliefert, Vorstellungskraft und Phantasie verkümmern. Da auch der Kunstunterricht zugunsten der MINT-Fächer immer öfter entfällt, findet ästhetische Erziehung (Kunst, Musik, Theater, tanz) kaum mehr (bzw. nur noch an Privatschulen) statt.
Sollen nicht alle Kinder möglichst früh lernen, mit Rechnern zu arbeiten, besser noch, wie Rechner zu denken in einer zunehmend vollständig digitalisierten Welt? Das Stichwort dafür ist „Computational Thinking“ (Rechnerisches Denken) und zeigt bereits im Begriff die Problematik der beabsichtigten Verkürzung menschlicher Erkenntniskräfte. Die „Offensive Digitale Schultransformation“ (#Odigs) soll sowohl den Schulalltag wie die Lehrerausbildung ganz nach den Anforderungen der Informationstechnik umformen.
„Dazu gehört unter anderem die verpflichtende informatische und digitale Grundbildung in der Breite der Lehrkräfteaus- und -weiterbildung, verpflichtender Informatikunterricht für alle Schülerinnen und Schüler und mehr IT-Fachpersonal für die Schulen, das digitale Infrastrukturen aufbauen und dauerhaft pflegen kann.“ (GI 2020)
Mehrere Lehrerverbände unterstützen diese Initiative der IT-Wirtschaft und ihrer Lobbyverbände. Kurioserweise fragt kaum jemand, was informatische Grundbildung bzw. informatisches Denken konkret bedeutet. Computational Thinking trainiert und verkürzt das Denken auf Fragen der Berechenbarkeit.
„Informatisches Denken beruht auf der Mächtigkeit und den Grenzen von Berechnungsprozessen, ob sie nun von Menschen oder Maschinen ausgeführt werden. Berechnungsmethoden und -modelle geben uns Mittel an die Hand, Probleme zu lösen und Systeme zu entwerfen, die niemand von uns alleine zu lösen in der Lage wäre. Was kann der Mensch besser als ein Computer? Was können Computer besser als Menschen? Grundsätzlich wird die Frage behandelt: Was ist berechenbar?“ (Wing 2006).
Informatisches Denken ist, sachlogisch verstanden, eine spezifische Art von Problemlösungsstrategie, die eine beliebige Aufgabenstellung so lange in Teilaufgaben zerlegt, bis diese Teilaufgaben mathematisch beschrieben, in einen Algorithmus (eine Handlungsanweisung für Computer) übersetzt und von einem Computerprogramm berechnet werden kann. Für jede Teilaufgabe muss ein eindeutiger (binärer) Wert herauskommen: Ja oder nein, Richtig oder Falsch, Eins oder Null. Berechnungen können beliebig komplex werden und immer höhere Rechenleistungen erfordern, aber das Grundprinzip bleibt identisch: Die Aufgabe muss informatisch beschreibbar sein. Berechenbarkeit von Prozessen als Basis informatischen Denkens weist zugleich auf die Defizite. Sehr vieles von dem, was den Menschen und sein Leben in Gemeinschaft ausmacht, ist nicht berechenbar. Umgekehrt lässt sich formulieren: Gerade das nicht Berechenbare macht den Menschen und seine Lebenswelt aus.
Man nennt es Kultur. Technik ist ein Teilaspekt, aber menschliche Kultur beruht auf viel mehr als nur mathematischen und/oder informatischen Denkmodellen. Kultur ist Ausdruck der Vielfalt der Menschen und ihrer Ideen, ihrer Lebensweisen und ihrer Phantasie, Kreativität und Schöpfungskraft. Kultur beruht vor allem auf Gemeinschaft und Sozialität, die gerade nicht berechnet werden können. Wer die Standardphrase von StartUps „Wir programmieren eine bessere Welt“ sprachlogisch und kultursensibel hinterfragt, wird es als Drohung begreifen. „Nicht alles, was man zählen kann, zählt. Und nicht alles, was zählt, kann man zählen.“ soll Albert Einstein gesagt haben. Wem immer man diese Bonmot zuschreibt: Eine berechnete Welt ist keine humane, sondern ein auf Berechenbares verkürztes Dasein.
Programmiert wird keine „bessere Welt“, sondern das digitale Gerüst der Datenökonomie. Es geht um Geschäftsmodelle und Rendite. Aus der idealistischen Idee des WorldWideWeb (ohne Leerzeichen) als weltweites, hierarchiefreies Kommunikationsnetz zwischen Wissenschaftlern (Tim Berners-Lee ,1989) bzw. der Utopie eines libertären virtuellen Raums (John Perry Barlows Cybermanifest von 1996) als “Global Village“ hat sich das World Wide Web (mit Leerzeichen) als marktradikaler Überwachungskapitalismus (Shoshana Zuboff, 2018) oder totalitärer Staatskapitalismus (China, Russland u.a.) herauskristallisiert.
Die Experimentier- und Spielphase des Web in den 1990er Jahren endete mit der Jahrtausendwende und dem ersten Börsencrash. Phase II ist die Kommerzialisierung, die heutigen Big Five (Alphabet/Google, Amazon, Apple, Facebook, Microsoft) legten die Basis für die nach 2008 und dem nächsten Börsencrash etablierten Phase III, den IT-Monopolismus. Die letzten 20 Jahre haben gezeigt, dass sich mit digitaler Infrastruktur und Diensten ein Medium etabliert hat, dass sehr wenige Menschen sehr reich gemacht hat. Sie nehmen ohne jegliche demokratische Legitimation massiv Einfluss auf demokratische Gesellschaften. Stichworte auf technischer Seite sind persuasive (verhaltensändernde) Technologien und affective Computing (das Vermessen der Emotionen), auf inhaltlicher Seite Fake News und Deep Fake (gefälschte Videos und Tonaufnahmen), Hate Speech, Filterblasen u.v.m.
Wer daher heute noch argumentiert, der Aufbau der digitalen Infrastruktur sei nur so etwas wie das Verlegen von Stromleitungen „um elektrisches Licht oder einen Kühlschrank anzuschließen“ (Zitat eines Redebeitrags in der Diskussion), verkennt (oder unterschlägt) den fundamentalen Unterschied zwischen einer technischen Infrastruktur (Stromleitung) und einer Kontrollstruktur. Installiert wird derzeit ein Netz an Datenleitungen mit permanentem Rückkanal für Nutzerdaten. Passender wäre daher der Hinweis, dass Smartmeter („intelligente“ Stromzähler) z.B. erkennen, welche Fernsehsendung man gerade schaut, damit der Mobilfunkanbieter passende Werbung aufs Smartphone schicken kann.
Der Aufbau dieser digitalen Infrastruktur ist die Voraussetzung für die digitale Transformation der Gesellschaft mit dem Ziel der digitalen Organisation dieser Gesellschaft und all ihrer Bereiche (Arbeit, Bildung, Gesundheit, Kommunikation, Konsum u.a.). Grundlage dafür sind Nutzerdaten, die bei allen Onlinediensten entstehen und aus denen Nutzerprofile berechnet werden. Der verharmlosende Begriff „smart“ (Smart Home, Smart School, Smart City …) steht dabei für immer mehr Kameras, Mikrofone und Sensoren im privaten wie im öffentlichen Raum. Das immer kleinteiligere Netz aus Datenquellen, das „smart grid“ heißt ebenso verharmlosend Internet of Things (IoT) und bedeutet. Toaster, Zahnbürste und Kühlschrank senden ebenso Daten wie Smartphone, Tablet und Laptop. Menschliches Verhalten wird aufgezeichnet und algorithmisch ausgewertet.
Diese Datensammlung ist die Grundlage für Big Data und Datenökonomie – und in China schon heute für einen totalitären Kontrollstaat. Exakt diese digitale Infrastruktur wird derzeit in den Schulen installiert, mit den gleichen Big Playern im Hintergrund und exakt den gleichen Möglichkeiten der Probandensteuerung durch Rückkanal und personalisierten Daten. Bei der Installation von Lernsystemen in Schulen etwa ist die wichtigste Applikation das sogenannte Identitätsmanagement (IM oder ID-M). Bei Microsoft heißt es Azure und erlaubt, alle Handlungen einer Person auch über mehrere Geräte hinweg zu verfolgen und der Person zuzuordnen. Christoph Meinel beschreibt die Notwendigkeit der eindeutigen Identifizierung der Nutzerinnen und Nutzer am Beispiel der HPI-Schulcloud so:
„Viele dieser interaktiven Systeme funktionieren nur, wenn sie den Nutzer kennen. Das bedeutet, dass Daten protokolliert werden: Was hat der Betreffende gestern gemacht? Welche Frage konnte er nicht beantworten? Wo müssen wir wieder ansetzen?“ (Meinel, 2020a)
Dabei geht es nicht um einzelne Schülerinnen oder Schüler als Person und Individuum. Sie sind nur ein Fall in einer Reihe von beobachteten und vermessenen Lernern. Im HPI-Blog-Beitrag zu Bildungsdaten schreibt Meinel, dass Lernsysteme …
„… Vergleichsanalysen mit den Verhaltensdaten aller anderen jemals eingeloggten Lerner durchführen und darauf aufbauend die weiteren Interaktionen dem anvisierten Lernziel entsprechend steuern (könne).“ (Meinel, 2020b)
Lernsysteme würden sich „erinnern“ (genauer: speichern) welche Matheaufgaben nicht richtig gelöst würden, oft sogar die Ursache erkennen. Das System speichert, „welche Vokabeln nicht richtig sitzen und deshalb weiter geübt und trainiert werden müssten“. Solche kleinteiligen Lernleistungsprüfung könnten Lernmanagementsysteme (genauer: Lernkontrollsysteme), viel besser umsetzen als es Lehrkräften je möglich wäre. Durch „passgenaue Angebote“ (ein beliebtes Wort der Prozessoptimierer) würden Schwächen der Schüler/innen erkannt und überwunden und „zielgenau“ (ein ebenso beliebter Begriff) Stärken individuell gefördert. Die Lernziele gibt das Lernprogramm vor und ist für Lernende ebenso intransparent wie die Leistungsmessung. Dafür müsse man allerdings personenbezogene Daten und Klarnamen speichern. Das System müsse schließlich „wissen“, wer vor dem Bildschirm sitzt und dazu alle Interaktionen mit dem System aufzeichnen.
„In dieser Lern‐ und Arbeitsumgebung sind Klarnamen unerlässlich. Lehrer müssen Ihre Schüler erkennen, Schüler ihre Klassenkameraden, Teilnehmer ihre Arbeitsgemeinschaften.“ (Meinel, 2020b)
An dieser Stelle könnte ein Exkurs stehen über (Pseudo)Anonymisierung und die einfache Re-Personalisierung von Daten bzw. die Unmöglichkeit, Rechner im Netz vor Angriffen zu schützen. (Lankau, 2016). Das Thema Datenschutz – als Schutz von Grundrechten, nicht von Daten, das wäre Datensicherung) – ist so wichtig, dass hier nur auf die Aktion „Keine Schülerdaten für US-Unternehmen“ (Bündnis, 2020) und z.B. auf Digitalcourage verwiesen werden kann, die einen der BigBrotherAwards 2020 an die damals amtierende Kultusministerin von Baden-Württemberg für das Beharren auf den Einsatz von US-Software verliehen hat. (Digitalcourage, 2020) Die wenigen Beispiele verdeutlichen bereits, dass es bei der Frage nach IT in Schulen nicht darum gehen kann, nur Software anderer Anbieter einzusetzen (damit bliebe man in der Logik der IT-Wirtschaft und Daten-Ökonomie), sondern dass IT-Strukturen insgesamt neu gedacht und konzipiert werden müssen, bevor man diese Technologien überhaupt in Schulen einsetzen kann. Andernfalls etabliert man in Schulen Systeme, die Shoshana Zuboff für das kommerzielle Web als „Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ charakterisiert und aus denen in Bildungseinrichtungen eine Überwachungspädagogik wird (Burchardt, Lankau 2020).
Digitalhörigen Studierenden empfehle ich zwei Bücher des gleichen Autors. Jaron Lanier ist Chefentwickler bei Microsoft, Urgestein der IT und hält mehr als 60 Softwarepatente. Der erste Titel heißt „Anbruch einer neuen Zeit“ (Lanier 2018a) und vermittelt aus seiner Sicht als Entwickler die Entstehungsgeschichte und Faszination von digitalen Systemen der Virtual Reality. Der zweite Titel lautet „Zehn Gründe, warum Du Deine Social Media Accounts sofort löschen musst“ (Lanier 2018b) und beschreibt die psychische Deformation menschlichen (Kommunikations-)Verhaltens durch die Psychotechniken aus dem Silicon Valley. Diese Differenzierung: Faszination für Techniken bei gleichzeitiger analytischer Fähigkeit, auch negative Folgen zu benennen und daraus konkrete Handlungsempfehlungen zur Nichtnutzung von Techniken abzuleiten, fehlt vielen Vertretern aus Pädagogik, Kultur- und Geisteswissenschaft. In der pädagogischen Arbeit ist es aber absolut notwendig, neben der Faszination für Techniken auch deren sozialen und z. B. pschologsichen Folgen zu konkretisieren. Es fehlen Diskurse über Technikfolgeabschätzung (TA) zu dem,was Digitalität zwar genannt werden mag, ohne explizite Einbindung der de-humanisierenden und demokratiegefährdenden Faktoren jedoch nur als eine Verklärung des technologische Totalitarismus (Schirrmacher, 2015) gelesen werden kann. Dringend notwendig ist die kritische Reflexion über mediale Geschäftsmodelle und dahinterstehenden Interessen, statt einer kritiklose Akzeptanz bis hin zum TINA-Fatalismus (There Is No Alternative) zu frönen, die bereits das Anklicken eines Like-Buttons zu einer Kulturleistung in Gemeinschaft verklärt.
Aufgabe von Bildungseinrichtungen ist Erziehung zu Mündigkeit und Selbständigkeit, auch und gerade im Umgang mit (neuen) Medien. Webdienste und Social Media-Kanäle zur Normalität von Schülerinnen und Schülern zu erklären, entlastet nicht von der Notwendigkeit, diese mediale Maschinerie samt individueller wie sozialer Folgen zu thematisieren. Eine„Kultur der Digitalität“ zu behaupten ist nichts anderes als die Überhöhung einer technischen Infrastruktur zur Manipulation und Verhaltenssteuerung von Menschen. Wenn über „Kulturtechniken des Digitalen“ diskutiert wird, die Schülerinnen und Schüler lernen müssten, um in einer digitalen Zukunft bestehen zu können, lautet die erste Aufgabe: Lernt, hinter die Bildschirme zu schauen. Lernt, welche Daten generiert werde und wer Geld mit Nutzerdaten und Profilen verdient. Lernt, die Mechanismen der Daten-Ökonomie, bei denen der Mensch mit seinen Bedürfnissen und Verhalten zur Ware wird. Und lernt, dass man andere digitale Infrastrukturen aufbauen muss (dezentral, datensparsam, Datenhoheit bei den Nutzerinnen und Nutzern, jederzeitige Löschoptionen), um nicht mit Daten und Profilen zu bezahlen.
Alternativen für den Einsatz von IT in Schulen samt pädagogischer Konzepte für die verschiedenen Schulformen und Altersstufen gibt es, u.a. in der Flugschrift mit dem Titel: „Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht.“ Der Untertitel nennt das übergeordnete Lernziel: „Wie man digitale Medientechnik zur Emanzipation und Förderung der Autonomie des Menschen einsetzt, statt sich von IT-Systemen und Algorithmen steuern zu lassen.“ (Lankau, 2020). Parallel entstehen Kooperationen mit sehr unterschiedlichen Partnern, etwa die gemeinsame Stellungnahmen gegen MS-Software in Schulen (https://unsere-digitale.schule/). Vertreter des Chaos Computer Club und Digitalcourage e.V. sind dort ebenso aktiv wie Informatik-Lehrerinnen und Lehrer nebst weiteren Lehrerverbänden. Dabei geht es um konkrete Lösungen mit Open Source-Programmen und die konstruktive Arbeit mit Digitaltechnik, in Kooperationen mit Technikpartnern. Das Ziel ist die Autonomie im Einsatz von und Souveränität im Umgang mit Medien. Denn nur, weil es Facebook, Google, Microsoft & Co. gibt, muss man deren Dienste nicht nutzen. Das zu vermitteln ist die elementare Aufgabe von Schulen: Entscheidungs- und Handlungskompetenz durch Medienmündigkeit. (Bleckmann, 2012)
Die abschließende Frage ist, warum man als Digital-Kritiker mit Minderheitenmeinung an solchen Veranstaltungen teilnimmt, wohl wissend, was zu erwarten ist. Es sind Veranstaltungen, in denen die zukünftige Generation von Lehrkräften zuhört. Es wäre verantwortungslos, solchen Veranstaltungen die Gegenstimme zu verweigern, wenn man eingeladen wird. Wie bei den autogerechten Städten und der Atomkraft kann es zwar dauern, bis sich die Vernunft durchsetzt, aber den Weg bereiten kann und muss man hier und jetzt.
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