Zur pädagogischen Arbeit des Unterrichtens, nicht nur an Hochschulen, gehört der Dialog über Inhalte, Methoden und Ziele von Lehrveranstaltungen. Zu Beginn des Semesters werden die Themen und deren Einbindung in den fachlichen bzw. historischen Kontext, besonders relevante Einzelaspekte, begleitende Literatur und Leistungsnachweise besprochen. Am Ende des Semester steht die Nachbesprechung, oft verbunden mit einer Rückmeldung von Seiten der Studierenden per Fragebogen.
Üblich war, dass die Lehrenden diese Fragebögen im Seminar ausgeben, am Ende der Stunde einsammeln und die Rückmeldungen in der Folgewoche mit den Studierenden besprechen. Die Basis waren das Seminar, wechselseitiges Vertrauen durch direkte Beziehung und gemeinsame Ziele: der erfolgreiche Abschluss der Veranstaltung, auch Diskussionen über mögliche thematische Ergänzungen oder Verbesserungsvorschläge für die Lehrveranstaltung selbst.
Das ist mit den Evaluationsverordnungen im Rahmen des Bologna-Prozesses ins Gegenteil gekippt. Statt einer Dialogkultur existiert ein generelles Misstrauen gegenüber allen Beteiligten. Unterstellt wird beiden Seiten Unaufrichtigkeit. Lehrende etwa dürfen die Evaluationsbögen nicht mehr einsammeln und auswerten. Sie könnten ja handschriftlich ausgefüllte Evaluationsbögen mit ebenfalls handschriftlich geschriebenen Klausuren vergleichen. Für Kritiker des Seminars könne das – so die Logik – zu schlechten Noten in Klausuren führen. Das unterstellt die Verletzung einer zentralen Amtspflicht – die (soweit möglich) objektive und personenunabhängige Beurteilung von Leistungsnachweisen – und wäre sowohl beamten- wie verwaltungsrechtlich zu ahnden.
Studierende dagegen könnten aus Angst vor schlechten Noten vor Kritik zurückschrecken, selbst wenn der Semestersprecher oder die Semestersprecherin die Evaluationsbögen einsammelt und die ausgewerteten Ergebnisse ohne Namensnennung im Seminar vorträgt. Letzteres wäre allerdings rechtlich mehr als fragwürdig, da die Evaluationsbögen personenbezogene Daten erheben. Sind Bologna-Hochschulen (als Sammelbegriff für tertiäre Bildungseinrichtungen) mittlerweile Orte der Angst, Anpassung und Unterordnung, in denen ein Diskurs nicht mehr möglich ist? Wo sonst sollen Studierende lernen, Kritik zu äußern oder vorgegebene Strukturen in Frage stellen?
Geradezu widersinnig wird die Praxis einiger Einrichtungen: Lehrende dürfen Evaluationsbögen nur austeilen. Studierende sammeln die Bögen ein und übergeben sie in einem verschlossenen Umschlag der oder dem Evaluationsbeauftragten der Fakultät. Die Bögen werden anschließend gescannt, Ankreuz-Antworten automatisiert statistisch ausgewertet, die Ergebnisse den Lehrenden zugemailt – mitsamt der handschriftlichen Anmerkungen der Freitextfelder. Lehrende, die Schriftproben vergleichen und Klausurnoten danach vergeben wollten, könnte das auch in der digitalisierten Variante.
Wer auf rein digital realisierte Evaluationen setzt (mit aufwendigen Anonymisierungsmethoden zumindest für die Studierenden) unterschlägt die Folgen einer technisierten Feedback-Kultur. Fehlende soziale Einbindung und Kontrolle bei kommunikativen Prozessen, auch und gerade von berechtigter, konstruktiver, auch notwendiger Kritik, führt ohne (oder nur imaginiertes) soziales Gegenüber schnell zum Entgleisen der Sprache. Wer allein an Bildschirm und Tastatur sitzt, neigt schneller zu Polemik, wie man es aus den sozialen Medien kennt. Konstruktives Feedback bleibt dann aus.
Immerhin sind die Daten (samt Zuordnung zu Person und Veranstaltung) jetzt im Hochschul-IT-System hinterlegt und für die weitere „Personalführung“ (die an Hochschulen für die Professorenschaft (noch) nicht vorgesehen ist) nützlich. Wer z.B. nach der W-Besoldung alimentiert wird, muss bei seinen regelmäßigen Selbstberichten u.a. die Evaluationsergebnisse beilegen. Sie gelten als ein Kriterium für mögliche Zulagen.
Das Missfallen an der internen Evaluation in Seminaren krankt aus Sicht der Hochschulbürokratie an zwei Parametern. Zum Ersten hat sie auf solche dialogische Prozesse keinen Zugriff bzw. kann nur Ergebnisprotokolle auswerten. Das gilt für Lehrevaluationen innerhalb der Fakultäten genauso wie für die besprochenen Themen in Studienkommissionen oder Fakultätsrats-Sitzungen. Es entspricht den Grundprinzipen einer demokratisch verfassten Hochschule und Studentenschaft, dass man im Positiven wie bei Problemen miteinander spricht. Das pädagogische Versprechen „Was wir hier im Raum besprechen, verlässt den Raum nicht.“ ist ja überhaupt erst die Basis für ein offenes Gespräch. Das aber bleibt für die Datensammler unbefriedigend, da intransparent.
Der zweite Kritikpunkt der Hochschul-Manager ist der fehlende Druck zur Standardisierung von Veranstaltungen mit dem Ziel der Mess- und Vergleichbarkeit. Sie bevorzugen es, die Qualität der Lehre und Forschung an normierten Prozessen und messbaren, validierten, vor allem reproduzierbaren Ergebnissen festzumachen. Doch Hochschullehre lebt von den beteiligten Charakteren und Persönlichkeiten. Anders als in Unternehmen sind alle Professorinnen und Professoren einer Hochschulen gleich berechtige Kolleginnen und Kollegen. Es gibt weder von Dekanaten noch Rektoraten oder selbst Ministerien Weisungsbefugnisse, außer der Festlegung des zu erbringenden Lehrdeputats. Die grundgesetzlich geregelte Lehr- und Forschungsfreiheit verbietet die Einflussnahme auf Inhalte und Methoden von Lehrveranstaltungen. Das heißt, die Entscheidungen über Inhalte, Methoden und Ziele von Lehrveranstaltungen verantwortet der oder die Einzelne.
Wer nun – wie in anderen Ländern – die Weiterbeschäftigung der Lehrenden an positive Lehrevaluationen knüpft, generiert nach und nach inhaltsentleerte Fächer. Der Unterricht wird unterhaltsam, die Aufgaben sind leicht, die Noten durchgängig freundlich. Fachinhalte werden nicht nach Fachlogik mit zunehmender Komplexität strukturiert, sondern nach Parametern der „Kundenzufriedenheit“ und erwünschtem „Output“. Die Anzahl der BA- und MA-Abschlüsse steigt ähnlich rasant wie die Abiturquote und Durchschnittsnote – und der Markt für qualifizierte Bildungsabschlüsse wird den privaten Anbietern gegen entsprechendes Schul- und Studiengeld überlassen.
Gefochten wird um Grundprinzipen: Akademische Autonomie und freie Lehre vs. Unterordnung unter Marktmechanismen. Während Lehrende konstruktive Rückmeldungen aus der Nachbesprechung einer freiwilligen und dialogischen Lehrevaluationen offen aufnehmen – so meine über 30-jährige Erfahrung in tertiären Bildungseinrichtungen, sind anonymisierte Auswertungsbögen, die als PDF zugemailt und als Steuerungsinstrument missbraucht werden, wertlos. (Zumal die Trivialität der Fragen akademische Lehre beleidigt: Die Lehrveranstaltung ist gut strukturiert. Der Dozent ist engagiert. Die LV fördert das Interesse am Fach. Der Workload ist zu hoch/genau richtig/ zu wenig.) Die Ergebnisse der auf einer Skala von 1 bis 5 anzukreuzenden Antworten nivelliert sich statistisch zuverlässig im Mittelfeld. Freitextantworten sind i.d.R. wenig aussagekräftig. Das Ausfüllen der Formulare verkommt zu einem anonymisierten Ritual.
Das heißt: Statt der sich zunehmend verselbständigenden Rituale zur Generierung von sinnfreien Kennzahlen und Statistiken zu frönen und immer größere Evaluationsabteilungen aufzubauen, sollten Hochschulen die Evaluationen wieder ihrem ursprünglichen Ziel zuführen: Verbesserung der Lehre durch direkten Dialog. Das geht nur vor Ort und im direkten Miteinander. Dazu sollte man die Lehrevaluationen erfahrenen und im Unterrichten (!) qualifizierten Pädagoginnen und Pädagogen überantworten, statt Betriebswirte, Empiriker und Informatiker zu überfordern. Verloren gehen sonst die Individualität der Lehrpersönlichkeiten, die Vielfalt der individuellen Lehr- und Unterrichtsmethoden und nicht zuletzt die Eigengesetzlichkeit der Fächer.
Der Betrag als PDF: MIssstrauen statt Dialog (Evaluationen)